Das Primat der Wissenschaftlichkeit
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schlossen schien. Zwar wurden seine Darlegungen anfangs meist kritisiert und allen-
falls einzelne seiner Beobachtungen zu dem Erscheinungsbild der Leidenschaften
herangezogen, die Vorbehalte sollten jedoch im Laufe der Zeit zurückgenommen
werden. Diese Neubewertung wurde sicherlich erleichtert und gefördert durch eine
allgemeine Rückbesinnung auf den »Grand Siècle«. Die eigentliche Ursache war
indes eine andere: Nicht die von Le Brun erzielten Ergebnisse, sondern der gemein-
same Anspruch einerwissenschaftlich fundierten Beschäftigung mit dem Bereich der
expression des passions ließen die Theoretiker auf den Künstler des 17. Jahrhunderts
und seine Abhandlung zurückgreifen. So kann Le Brun - um es salopp auszudrük-
ken - als Trittbrettfahrer einer Verwissenschaftlichung der Diskussion um den Aus-
druck der Leidenschaften bezeichnet werden, der sich auf diese Weise in die neue
Zeit hinüberrettete.
Die allmähliche Aufwertung der Ausführungen Le Bruns läßt sich an mehreren
Beispielen verfolgen. Es ist bereits auf die unterschiedlichen Ansichten von Watelet
und Dandré-Bardon hingewiesen worden. Auch wurde Diderots ambivalente Hal-
tung beschrieben. Dazu kann noch ein weiteres Detail nachgetragen werden. Für den
1763 erschienenen, dritten Illustrationsband der»Encyclopédie« hatte Diderot Char-
les-Nicolas Cochin gebeten, den Abbildungsteil zu dem Artikel »Dessein« zusam-
menzustellen. Dieser wählte für die expression des passions eine Reihe von Beispielen,
die ausschließlich von Le Brun stammten. Als Vorlage diente ihm dabei die 1727er
Ausgabe des Traktates514, von der er auch die komprimierten Erläuterungstexte wört-
lich übernahm. In Watelets Beitrag zu dem Stichwort »Dessein« wird auf diese Abbil-
dungen, wie auch auf den gesamten Bereich der expression des passions, kein Bezug
genommen515. Ähnlich hatte - wie erwähnt - Pernety seinem Text einige Illustratio-
nen mit Le Brunschen Köpfen beigegeben, wenn auch in recht schlechter Qualität.
Die Demonstrationszeichnungen sollten zudem in der folgenden Zeit des öfteren
nachgestochen werden, meist für pädagogische Zwecke und vorzugsweise in der
modernen Crayonmanier.
Einen Höhepunkt fand die Wiederannäherung an Le Brun und sein Traktat - nun
nicht mehr durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründet - in einer Aus-
stellung, die im Jahre 1797 der Musée Central des Arts in der Galerie d'Apollon des
Louvre veranstaltete. Gezeigt wurde eine Auswahl von Zeichnungen aus dem ehe-
maligen Besitz des Königs, darunter auch eine Anzahl der Illustrationen, die Le Brun
514 Im Jahre 1727 war in Paris eine Folio-Ausgabe mit dem Titel »Expressions des passions de l'ame.
Representées en plusieurs testes gravées d'apres les desseins de feu Monsieur le Brun, Premier
Peintre du Roy« erschienen, die eine Auswahl von 20 Köpfen der zweiten Gruppe umfaßt, das
heißt Köpfe, die aus einem kompositorischen Zusammenhang genommen worden sind (vgl.
Abb. 88). Die einzelnen Ausdruckformen sind darin jeweils durch einen kurzen, aufLe Bruns
Ausführungen basierenden Text erläutert. Der Stecher der Illustrationen dieser Ausgabe war Jean
Audran.
515 Dem Artikel »Passion (peint.)« der »Encyclopédie« sind keine Illustrationen beigegeben.
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schlossen schien. Zwar wurden seine Darlegungen anfangs meist kritisiert und allen-
falls einzelne seiner Beobachtungen zu dem Erscheinungsbild der Leidenschaften
herangezogen, die Vorbehalte sollten jedoch im Laufe der Zeit zurückgenommen
werden. Diese Neubewertung wurde sicherlich erleichtert und gefördert durch eine
allgemeine Rückbesinnung auf den »Grand Siècle«. Die eigentliche Ursache war
indes eine andere: Nicht die von Le Brun erzielten Ergebnisse, sondern der gemein-
same Anspruch einerwissenschaftlich fundierten Beschäftigung mit dem Bereich der
expression des passions ließen die Theoretiker auf den Künstler des 17. Jahrhunderts
und seine Abhandlung zurückgreifen. So kann Le Brun - um es salopp auszudrük-
ken - als Trittbrettfahrer einer Verwissenschaftlichung der Diskussion um den Aus-
druck der Leidenschaften bezeichnet werden, der sich auf diese Weise in die neue
Zeit hinüberrettete.
Die allmähliche Aufwertung der Ausführungen Le Bruns läßt sich an mehreren
Beispielen verfolgen. Es ist bereits auf die unterschiedlichen Ansichten von Watelet
und Dandré-Bardon hingewiesen worden. Auch wurde Diderots ambivalente Hal-
tung beschrieben. Dazu kann noch ein weiteres Detail nachgetragen werden. Für den
1763 erschienenen, dritten Illustrationsband der»Encyclopédie« hatte Diderot Char-
les-Nicolas Cochin gebeten, den Abbildungsteil zu dem Artikel »Dessein« zusam-
menzustellen. Dieser wählte für die expression des passions eine Reihe von Beispielen,
die ausschließlich von Le Brun stammten. Als Vorlage diente ihm dabei die 1727er
Ausgabe des Traktates514, von der er auch die komprimierten Erläuterungstexte wört-
lich übernahm. In Watelets Beitrag zu dem Stichwort »Dessein« wird auf diese Abbil-
dungen, wie auch auf den gesamten Bereich der expression des passions, kein Bezug
genommen515. Ähnlich hatte - wie erwähnt - Pernety seinem Text einige Illustratio-
nen mit Le Brunschen Köpfen beigegeben, wenn auch in recht schlechter Qualität.
Die Demonstrationszeichnungen sollten zudem in der folgenden Zeit des öfteren
nachgestochen werden, meist für pädagogische Zwecke und vorzugsweise in der
modernen Crayonmanier.
Einen Höhepunkt fand die Wiederannäherung an Le Brun und sein Traktat - nun
nicht mehr durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründet - in einer Aus-
stellung, die im Jahre 1797 der Musée Central des Arts in der Galerie d'Apollon des
Louvre veranstaltete. Gezeigt wurde eine Auswahl von Zeichnungen aus dem ehe-
maligen Besitz des Königs, darunter auch eine Anzahl der Illustrationen, die Le Brun
514 Im Jahre 1727 war in Paris eine Folio-Ausgabe mit dem Titel »Expressions des passions de l'ame.
Representées en plusieurs testes gravées d'apres les desseins de feu Monsieur le Brun, Premier
Peintre du Roy« erschienen, die eine Auswahl von 20 Köpfen der zweiten Gruppe umfaßt, das
heißt Köpfe, die aus einem kompositorischen Zusammenhang genommen worden sind (vgl.
Abb. 88). Die einzelnen Ausdruckformen sind darin jeweils durch einen kurzen, aufLe Bruns
Ausführungen basierenden Text erläutert. Der Stecher der Illustrationen dieser Ausgabe war Jean
Audran.
515 Dem Artikel »Passion (peint.)« der »Encyclopédie« sind keine Illustrationen beigegeben.