Der Comte de Caylus und sein »Prix d'expression«
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(Der junge Maler muß also über die Leidenschaften nachdenken, das heißt über ihre
Ursachen und ihre Wirkungen reflektieren, um in der Lage zu sein, ihre Entwicklung,
ihren Verlauf und ihr Abflauen zu beobachten. Ziel ist es, einige der Bewegungen zu
erfassen, die in dem Moment des Auftretens natürlicher Affekte vorherrschen.)321
Unter diesen Umständen verspricht der häufig erteilte Ratschlag, der Künstler solle
sich in eine Leidenschaft hineinversetzen und sie selbst empfinden, keine Hilfe
mehr. Im Gegenteil, man müsse befürchten, daß ein solches Verfahren den Künstler
unfähig macht, in dieser Frage zu Erkenntnissen zu gelangen322. Einzige Möglichkeit
blieb damit die intensive Naturbeobachtung.
Hier schloß Caylus mit seinem Vortrag »De l'étude de la tête en particulier« vom
6. Oktober 1759 an (Anhang II). Nachdem er noch einmal auf die Wichtigkeit einer
korrekten Wiedergabe der Leidenschaften hingewiesen hatte, bemängelte er, daß die-
ser Bereich in der französischen Malerei (und nicht nur dort) stark vernachlässigt
worden sei und eine umfassende Studie dazu noch ausstehe. Dieser Aufgabe habe
sich bereits Le Brun unterziehen wollen, der das Problem ebenfalls erkannt habe -
jedoch ohne Erfolg:
»C'est un mediocre secours; et vous scavés, Mrs., de quelle utilité peuvent être ces
traits; quand ils ne seroient pas aussi fortement soumis à une maniere, que sont- ils en
comparaison de la nature?«
(Das ist eine mittelmäßige Hilfe; und Sie wissen, meine Herren, wie nützlich diese
Gesichtszüge sein können; selbst wenn sie nicht derart stark einer Manier unterworfen
wären, was sind sie im Vergleich zur Natur?)323
Die der expression des passions in der zeitgenössischen Kunst entgegengebrachte
Geringschätzung sah Caylus begründet in der mangelnden Ausbildung der Künstler.
In ihrer Jugend nicht mit dem Problem der Leidenschaftsdarstellungen und deren
Schwierigkeiten konfrontiert, fehle ihnen später das Bewußtsein für die Bedeutung
des Bereiches und die Fähigkeit, zu überzeugenden Ergebnissen zu gelangen. Hier
galt es also anzusetzen, wollte man etwas verändern. Aus diesem Grund schlug Cay-
lus, neben der Unterweisung in der Anatomie des Kopfes, die Veranstaltung eines
jährlichen Wettbewerbes vor. Die Aufgabe sollte die künstlerische Wiedergabe eines
Leidenschaftsausdruckes sein. Dieser wäre von einem Modell nach den Angaben
eines durch das Los bestimmten Professors zu präsentieren. Das Modell sollte vor-
zugsweise weiblichen Geschlechtes sein, das schwieriger in einer Empfindung darzu-
stellen sei. Die Wirkung seines Kopfes dürfte dabei nicht durch modische Accessoi-
res beeinträchtigt werden, die von dem Thema, das heißt der wiederzugebenden Lei-
321 Comte de Caylus, Les passions en peinture, Bibliothèque de l'Ecole Nationale Supérieure des
Beaux-Arts, Paris, Ms 522, S. 93.
322 Ebd.
323 Comte de Caylus, De l'étude de la tête en particulier, Bibliothèque de l'Ecole Nationale Supé-
rieure des Beaux-Arts, Paris, Ms 522, S. 69.
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(Der junge Maler muß also über die Leidenschaften nachdenken, das heißt über ihre
Ursachen und ihre Wirkungen reflektieren, um in der Lage zu sein, ihre Entwicklung,
ihren Verlauf und ihr Abflauen zu beobachten. Ziel ist es, einige der Bewegungen zu
erfassen, die in dem Moment des Auftretens natürlicher Affekte vorherrschen.)321
Unter diesen Umständen verspricht der häufig erteilte Ratschlag, der Künstler solle
sich in eine Leidenschaft hineinversetzen und sie selbst empfinden, keine Hilfe
mehr. Im Gegenteil, man müsse befürchten, daß ein solches Verfahren den Künstler
unfähig macht, in dieser Frage zu Erkenntnissen zu gelangen322. Einzige Möglichkeit
blieb damit die intensive Naturbeobachtung.
Hier schloß Caylus mit seinem Vortrag »De l'étude de la tête en particulier« vom
6. Oktober 1759 an (Anhang II). Nachdem er noch einmal auf die Wichtigkeit einer
korrekten Wiedergabe der Leidenschaften hingewiesen hatte, bemängelte er, daß die-
ser Bereich in der französischen Malerei (und nicht nur dort) stark vernachlässigt
worden sei und eine umfassende Studie dazu noch ausstehe. Dieser Aufgabe habe
sich bereits Le Brun unterziehen wollen, der das Problem ebenfalls erkannt habe -
jedoch ohne Erfolg:
»C'est un mediocre secours; et vous scavés, Mrs., de quelle utilité peuvent être ces
traits; quand ils ne seroient pas aussi fortement soumis à une maniere, que sont- ils en
comparaison de la nature?«
(Das ist eine mittelmäßige Hilfe; und Sie wissen, meine Herren, wie nützlich diese
Gesichtszüge sein können; selbst wenn sie nicht derart stark einer Manier unterworfen
wären, was sind sie im Vergleich zur Natur?)323
Die der expression des passions in der zeitgenössischen Kunst entgegengebrachte
Geringschätzung sah Caylus begründet in der mangelnden Ausbildung der Künstler.
In ihrer Jugend nicht mit dem Problem der Leidenschaftsdarstellungen und deren
Schwierigkeiten konfrontiert, fehle ihnen später das Bewußtsein für die Bedeutung
des Bereiches und die Fähigkeit, zu überzeugenden Ergebnissen zu gelangen. Hier
galt es also anzusetzen, wollte man etwas verändern. Aus diesem Grund schlug Cay-
lus, neben der Unterweisung in der Anatomie des Kopfes, die Veranstaltung eines
jährlichen Wettbewerbes vor. Die Aufgabe sollte die künstlerische Wiedergabe eines
Leidenschaftsausdruckes sein. Dieser wäre von einem Modell nach den Angaben
eines durch das Los bestimmten Professors zu präsentieren. Das Modell sollte vor-
zugsweise weiblichen Geschlechtes sein, das schwieriger in einer Empfindung darzu-
stellen sei. Die Wirkung seines Kopfes dürfte dabei nicht durch modische Accessoi-
res beeinträchtigt werden, die von dem Thema, das heißt der wiederzugebenden Lei-
321 Comte de Caylus, Les passions en peinture, Bibliothèque de l'Ecole Nationale Supérieure des
Beaux-Arts, Paris, Ms 522, S. 93.
322 Ebd.
323 Comte de Caylus, De l'étude de la tête en particulier, Bibliothèque de l'Ecole Nationale Supé-
rieure des Beaux-Arts, Paris, Ms 522, S. 69.