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Kirchner, Thomas
L' expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts — Mainz: von Zabern, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.72614#0334

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Das Primat der Wissenschaftlichkeit

suchen. Diese Unfähigkeit der Formulierung einer modernen, spezifisch psychologi-
schen Fragestellung, die in der Verbindung beider Aspekte bestehen muß, ist wesent-
lich zurückzuführen auf Descartes' Dualismus, der trennte zwischen körperlichen
und seelischen Bereichen. Der Philosoph war zwar von einer Korrespondenz von
Physis und Psyche ausgegangen, derart daß eine seelische Bewegung eine physische
Entsprechung besitze, und hatte die Verbindung beider in einem Teil des Gehirns
angenommen; der Gedanke überzeugte jedoch nicht, da er Behauptung blieb und
nicht weiter untermauert wurde. Die damit festgeschriebene getrennte Betrachtungs-
weise von Leib und Seele konnte bald nicht mehr zufriedenstellen. Sie stand einer
Untersuchung des Menschen als einer in sich geschlossenen Einheit und damit sei-
ner wissenschaftlichen Erfassung im Wege. Wesentliches wissenschaftstheoretisches
Anliegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es nun, diese Trennung zu
überwinden. Erste Versuche einer Synthese beider Bereiche hatten um 1750 Buffon
und Condillac, jeweils mit unterschiedlichen Ausgangspunkten, unternommen,
ohne jedoch zu einleuchtenden Ergebnissen zu gelangen. Sie blieben im Grunde der
dualistischen Betrachtungsweise des Menschen verhaftet538.
Der Weg wurde indes weiterbeschritten. Eine wichtige Anregung zur Formulie-
rung eines ganzheitlichen Menschenbildes ging aus von einem Spezialgebiet der
Medizin, das sich gerade erst als eigenständige Disziplin konstituierte und in kürze-
ster Zeit an Bedeutung gewann: der anatomischen Pathologie. Sie erfuhr einen
beträchtlichen Impuls durch das 1761 erschienene Werk des an der Universität von
Padua lehrenden Giovanni Battista Morgagni »De sedibus, et causis morborum per
anatomen indagatis«. Der Mediziner untersuchte darin die Frage, in welchem
Zusammenhang Krankheitserscheinungen mit einzelnen, an der menschlichen
Leiche beobachteten, anatomischen Veränderungen der Organe stehen. Nun war
diese Betrachtungsweise, deren Gegenstand die menschliche Anatomie darstellte,
zwar nicht ohne weiteres auf die Leidenschaften übertragbar, da krankhafte Erschei-
nungen in diesem Bereich nicht unbedingt einhergehen müssen mit organischen
Veränderungen. Es ist jedoch sicherlich kein Zufall, daß eine medizinische Beschäfti-
gung mit den Affekten - nicht als spontanen, schnell vorübergehenden emotionalen
Erscheinungen, sondern unter dem Gesichtspunkt eines möglichen pathologischen
Auftretens - zu der Zeit vermehrt stattfand, als man sich intensiver mit Funktionsstö-
rungen des Körpers zu beschäftigen begann. Zwar war die Erkenntnis nicht neu, daß

538 Siehe Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklä-
rung, Frankfurt am Main/Berlin/ Wien 1977, S. 30-40, dort auch zu den späteren, zum Teil recht
schroffen Zurückweisungen ihrer Bemühungen, die sich unter anderem dadurch erklären, daß die
beiden Autoren ihrem eigenen Anspruch nicht genügten. Zu Buffon und dem gegen ihn vor-
gebrachten Vorwurf, es handele sich bei seiner Arbeit nicht - wie von ihm beansprucht - um Wis-
senschaft, sondern um Literatur siehe Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kul-
tureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19.Jahrhunderts, (Frankfurt
am Main) 1978, S. 131-168.
 
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