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Österreich / Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale [Hrsg.]
Kunstgeschichtliches Jahrbuch der K[aiserlich-]K[öniglichen] Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale - Beiblatt für Denkmalpflege — 1908

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Heft 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.26206#0079
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NOTIZEN

Wiener Verkehrsrücksichten

Alt-Wien wird Verkehrsrücksichten geopfert,
Rücksichten, die von niemand verlangt wurden und
die mit Unrecht ein geistvoller Künstler als eine
hysterische Lüge bezeichnete: sie sind nichts weiter
als eine Phrase.

Doch nehmen wir an, daß diese Rücksichten
bestehen und Fußgänger oder Equipagen nach der
Beseitigung aller „Engpässe“ und Durchführung neuer
Straßendurchbrechungen, denen die schönsten Partien
des alten Wiener Stadtbildes zum Opfer fallen würden,
um einige Minuten schneller als bisher die innere
Stadt durchqueren könnten. Wäre dadurch etwas
bewiesen? Stände da nicht einfach Interesse gegen
Interesse? Und kann man im Zweifel sein, welches
das höhere wäre?

Nie früher gab es in dem Verhältnisse des
öffentlichen Lebens und der öffentlichen Meinung
zu den geistigen Gewalten und idealen Empfindungen
und Bestrebungen der Gegenwart und Vergangenheit
so viel Tartüfferie und Augurentum wie heutzutage.
Nie früher wurde von einer höheren Lebensauffassung
und von den geistigen Gütern der Menschheit so viel
gesprochen, nie früher wurde ihre Pflege und Ver-
breitung so oft und allgemein für die heiligste Pflicht
sowohl jedes einzelnen als auch der Allgemeinheit
erklärt und nie früher war der wirkliche Respekt
von ihnen so gering wie heutzutage. Es gehört zum
guten Tone für sie zu schwärmen, in petrifizierter
Form bilden sie die fiktive Grundlage des soge-
nannten humanistischen Unterrichts, der die Menschen
zu ethisch und spirituell besser qualifizierten Wesen
erziehen soll, und für eine Reihe von Behörden sind
sie die Vignette einer sozial-kulturellen Fürsorge und
Betätigung. Doch wehe ihnen, wenn sie eine tat-
sächliche Berücksichtigung zu verlangen sich er-
kühnen sollten.

Nur die krasseste Unkenntnis kann der Meinung
sein, daß es sich in dem Kampfe um Alt-Wien um
nichts anderes handelt, als um die Marotte einiger
Kunstliebhaber, die für ihre persönlichen Passionen
ein Opfer von der Allgemeinheit verlangen. Würde
dem so sein, dürfte es sich kaum lohnen, über die
Angelegenheit auch nur ein Wort zu verlieren. Der
moderne Denkmalkultus gehört aber zu den Strö-
mungen im heutigen geistigen Leben, die nicht nur
ihrem Inhalte nach für die Bildung des Herzens und
Auges die wichtigsten sind, sondern auch tatsächlich
den größten, allgemeinsten Widerhall überall bereits
gefunden haben und von Jahr zu Jahr mit einer
geradezu elementaren Gewalt eine größere Be-
deutung als allgemeiner Kulturfaktor gewinnen.
Nicht Amateurentum hat ihn geschaffen, sondern
führende Geister, die nach dem Zusammenbruche
des ancien regime und der grauenhaften Kulturlosig-
keit, die diesem Zusammenbruche folgte, einen Weg
zu dem kulturellen Vermächtnisse der Vergangenheit
zu suchen begonnen haben. War auch ihre Be-
geisterung für die Vergangenheit zunächst, wie es, da
die Kontinuität der Entwicklung unterbrochen wurde,
nicht anders möglich war, mehr theoretischen und
dogmatischen Charakters, der eine gewisse Kenner-
schaft erforderte, so daß Kunstgelehrte und Kunst-
theoretiker die Führung hatten und das Interesse auf
bestimmte Stilperioden und Objekte von bestimmten
Qualitäten konzentriert war, vertiefte und verallge-
meinerte sich doch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
diese Strömung immer mehr und verwandelte sich
allmählich in ein von Kunsttheorien und Kenner-
schaft, von einer bestimmten Erudition oder Lieb-
haberei unabhängiges Gefühl der Pietät und
Liebe zu den Denkmalen der künstlerischen Kultur
der Vergangenheit. Nachdem aber der Denkmal-
kultus auf diese breite Basis gestellt worden war,
vereinigte er sich bald mit einem andern neu

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