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Künstlerselbsthilfe
Die Künstlerselbsthilfe: Zeitschrift für Kunst und Literatur: periodical — 1.1927

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Nr. 1
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Paetzold, Walter: Radius in Freiheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.67650#0027

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Radius in Freiheit
Von Walter Paetzold

Ein Radius empfand es langweilig, immer im Kreise
eingespannt zu sein und als Nebensache zu
gelten. Er sann auf Befreiung, rotierte einige Male
um das Zentrum und verspürte bald die Wirkung
der Zentrifugalkraft, So beschleunigte er das
Tempo und wirbelte schließlich mit unerhörter
Schnelligkeit pfeifend im Kreise herum.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Das Zen-
trum war heißgelaufen. Er brach am inneren Ende
ab und sofort auch an der Peripherie, Und heidi
ging's fort in die ersehnte Freiheit, Gelöst von
Hemmungen und Schranken sauste der Radius
durch den Raum.
Ein Dreieck kam des Wegs,
„Schau her, plumpes Dreieck, wie ich fliegen
kann! Ich bin ein lustiger Radius.“
,,Du ein Radius?“ sagte das Dreieck. ,,Es ist
zum Lachen, Eine ganz gewöhnliche Strecke bist
Du“, und flog davon.
So ein häßliches Gestell, dachte der Radius,
hat keinen Sinn für meine schwer erkämpfte Frei-
heit, Ich will mich noch anderen zeigen,
„Heda, Trapez! Siehst Du, wie leicht und
elegant ich durch den Raum schwebe? Ich bin ein
Radius, ein freier Radius,“
Das Trapez schaute nur halb hin,
„Du leidest wohl an Größenwahn, alberne
Strecke? Geh' Deiner Wege!“, und weg war es.
Der Radius war erstaunt, daß er wieder nicht
anerkannt wurde. Man hätte es ihm doch ansehen
müssen, daß er ein befreiter Radius war. Er wollte
bewundert werden. Und nun bemerkte man ihn
kaum. Vielleicht war es Neid,
Da kam ihm ein Quadrat entgegen.
„Grüß Gott, Quadrat!“ rief ihm der Radius
sehr liebenswürdig zu. „Hast Du schon bemerkt,
daß ich ein Radius bin, und zwar in voller Freiheit,
ohne alle Hemmungen?“
Das Quadrat hätte sich schief gelacht, wenn
es kein Quadrat gewesen wäre,
„Ein Radius“, sagte es, „hat andere Dinge zu
tun, als hier herumzulungern. Eine ganz gemeine
Strecke bist Du und noch dazu verbogen und an
den Enden gebrochen. Wast tust Du hier, Tage-
dieb, Ausbrecher? Mache Dich nützlich, wenn Du
es kannst! Aber remple keine ehrlichen exakten
Figuren an!“ Damit verschwand das Quadrat,
Diese Rede gab dem Radius zu denken. Er
bemerkte, daß er tatsächlich etwas verbogen war
und seine Enden Bruchstellen zeigten. Was sollte
er nun eigentlich mit seiner Freiheit anfangen?

Bewundert wurde er doch nicht. Vielleicht sah er
wirklich nicht so gut aus, wie er glaubte. Wäre
es am Ende nicht besser, sich wieder eine Position
zu besorgen? Freilich müßte er dann seine Selb-
ständigkeit aufgeben und sich einem bestimmten
Gefüge mit haarscharfen Gesetzen einreihen. Das
würde seinem großen Freiheitsdrang zuwider-
laufen, Aber — aber — aber-—,
Der freie Radius wurde sehr traurig. Er war-
tete, bis ihn eine der vorüberziehenden Figuren
ansprechen und auffordern würde, in ihr Gebilde
einzutreten, um mitzuwirken. Denn er war doch
immerhin ein Radius. Man würde sich um seine
Mitwirkung reißen, hoffte er.
Vergebens, Keiner der Vorüberziehenden
nahm auch nur die geringste Notiz von ihm. Der
Radius wurde verzagt und ganz mutlos. Es blieb
ihm nichts anderes übrig, als sich anzubieten.
Entschlossen ging er auf ein rechtwinkeliges
Dreieck zu: „Kann ich bei Euch eintreten? Ich
bin ein Radius, ein ehemaliger Radius, jetzt völlig
frei und unabhängig,“
„Danke“, sagte eine der Katheten, „keine Ver-
wendung,“
„Siehst Du nicht, daß unsere drei Seiten be-
setzt sind?“ sagte die andere,
„Vielleicht als Höhe?“ bemerkte der Radius
kleinlaut,
„Ausgeschlossen!“ schnurrte die Hypothenuse,
„Dafür bist Du zu lang,“
Nach dieser Abfuhr wandte sich der Radius an
ein harmonisches Strahlenbündel: „Kann ich in
Euer Gefüge eintreten?“
„Hierzu bringst Du keinerlei Eignung mit“,
war die Antwort, „Wir haben nur einen Anfang
und kein Ende, Wir strahlen in die Unendlichkeit.
Du aber hast zwei rauhe Enden, Geh! Störe nicht
unsere Harmonie!“
Jetzt war der arme Radius der Verzweiflung
nahe. Da dämmerte ihm letzte Hoffnung, Er be-
sann sich auf seine Herkunft und glaubte, daß er
in einem Kreise sicherlich Verwendung finden
könnte. Bei vielen Kreisen sprach er vor, mußte
aber bald erfahren, daß er für keinen einzigen in
Betracht kam. Seinen Heimatkreis fand er nicht
v/ieder. Er hätte es auch nicht wagen dürfen, nach
seinem gewaltsamen Ausbruch dort anzuklopfen.
So versank der befreite Radius in völlige
Apathie, wurde schwermütig und untätig-.
Irgendwo ist er dann, vergessen und unbeweint,
verendet — — —,

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