BESUCH EINER BILDNIS AUSSTELLUNG
VON
JU ANITA BINZ
Das Spannendste und Geheimnisvollste, was
gedacht werden kann: Bildnisse. Was jene,
die wir betrachten, gewillt sind, von sich preis-
zugeben, und was sie unbewußt verraten; was der
Bildner in ihnen sah, tastend, suchend, erfassend.
Legte er vielleicht die Seele seines Objektes aus-
einander, um sie dann willkürlich zusammenzu-
setzen, brachte er eine fremde Note in dessen
Wesen, oder war es möglicherweise die eigentlich
wahre, da manche Künstler — Seher sind. Grübelte
er jenen zwanzig Schatten nach, „die aussehen wie
das Leid, doch es nicht sind “, um den letzten Aus-
druck zu finden, lockte er Verborgenstes aus den
Tiefen, so daß Sinne, Geist, Herz zu neuem
Leben erwachten und ein Extrakt entstand dieser
zwei, die zueinander strebten: Geschauter und
Schauender.
Wenn Schopenhauer verlangt, daß ein Porträt
ein lyrisches Gedicht sein soll, aus dem eine Per-
sönlichkeit mit ihrem ganzen Denken, Fühlen und
Wellen entgegenspricht, so könnte das Attribut
des Gedichtes jeweilig geändert werden, denn
manche fallen dramatischer aus, andere wieder
kontemplativer, und die lyrischen, um die der
Duft vergangener Dinge hängt — jener Dinge, die
man vielleicht einmal besaß, die man nicht mehr
erhofft — deren Lyrismus durch die Stärke der
Sehnsucht bestimmt wird, sind die selteneren.
Wir alle neigen dazu, Rätsel zu raten; keine
Zeitung, welche etwas auf sich hält, versäumt es
— mehr oder minder gewollt —, eine Anzahl zu
bringen. Es ist sonderbar, wie wenig Aufmerk-
samkeit dem Rebus Menschen gezollt wird. Denn
wenn dem so wäre, wetteiferte eine Bildnisaus-
stellung mit der Ueberfülle eines Warenhauses
am Ausverkaufstag, wartende Menschenschlangen
bildeten sich vor dem Eingang, als gälte es die
Eröffnung eines Monstrefilms. Indessen alle die
Gesichter berühmter Leute sehen von den Wänden
herab, bieten sozusagen ihre Mysterien feil, und
nur wenige interssieren sich für sie, gehen vor-
über, konstatieren Aehnlichkeit, rühmen künst-
lerische Qualitäten, erschauern vielleicht einen
Augenblick über das Geheimnis, welches den
Raum anfüllt, aufreizend, beklemmend wie Gei-
sterstunde im Ahnensaal. Hier sind sie zu sehen
diese Menschen, denen der Künstler nachging,
nachjagte, fasziniert, in monomanischer Be-
sessenheit, im Wechsel das Bleibende zu packen.
Heißt es nicht von Toulouse-Lautrec, daß er durch
die schwellende Pracht sommerlicher Landschaft
fahrend, in Abwehr die Vorhänge zuzog, um nicht
abgelenkt zu werden von seinem Thema, dem
Menschen. Er kannte die größte Sensation des
Lebens. Er suchte Aufschlüsse. Plato bezeichnet
mit wenigen Worten diese Suchenden: „Jene
Seele, die mehr als andere von der Wahrheit ge-
sehen hat, wird auf Erden die Seele eines Weisen
oder eines, der die Schönheit liebt, oder eines, der
Künstler ist und zu lieben weiß.“
Oder eines, der Künstler ist. Diese kleine Bild-
nisausstellung der Künstlergilde „Oper, Theater
und Film“ ist aufrührend, weil sie, so umgrenzt sie
ist, doch eindringlich zeigt, wie jeder Künstler, sei
er Bildner, Schauspieler, Musiker, vom heiligsten
Ernst für seine Aufgabe erfüllt, unaufhaltsam
strebt in dem Drange nach Wahrheit. Und das
Publikum, welches die nötige Resonanz bieten
sollte, wo ist es? Ist es blind? Ist es taub?
Gewiß, diese hinter uns liegenden Jahre, in
denen man sich über die primitiven Neigungen der
Neureichen vergnügte und das Spiel mit bunten
Glasperlen, die Freude an Lärm, an Grellem, an
Unkompliziertheit hinnahm, waren ganz inter-
essant. Aber nun sind die Schlagworte für diese
Richtung: modern und Zug der Zeit reichlich
überlebt, sie sind abgestanden, antiquiert, sie
riechen höchst unerquicklich nach Moder. Sogar
der Sport, so wertvoll und schön an sich, wird
durch die Art der Einreihung in seiner Bedeutung
verschoben. Ringkämpfern und Wettläufern ge-
bührt wohl keine größere Anerkennung als Künst-
lern, denn noch jetzt muß immerhin zugegeben
werden, daß eine Arbeit des Cinquecento Italien
mit größerem Glanze überstrahlt, als ihm alle
Kondottiere der Epoche verleihen konnten, auch
wenn ein Druck ihres Daumens genügte, um den
Gegner zu erledigen.
Unsere Zeit hat große und starke Künstler auf
allen Gebieten, aber es fehlt an Menschen, die
ihnen den Aufstieg erleichtern.
Nicht um die unteren Klassen handelt es sich,
ihr Hunger nach echter Kunst tritt deutlich zutage
in der Ueberfüllung bei guten Volksdarbietungen,
nicht um den breiten Mittelstand, der durch die
letzten Jahre aller Mittel beraubt, gegen seinen
Willen gezwungen ist, abseits zu stehen, wo er
früher fördernd eingriff.
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VON
JU ANITA BINZ
Das Spannendste und Geheimnisvollste, was
gedacht werden kann: Bildnisse. Was jene,
die wir betrachten, gewillt sind, von sich preis-
zugeben, und was sie unbewußt verraten; was der
Bildner in ihnen sah, tastend, suchend, erfassend.
Legte er vielleicht die Seele seines Objektes aus-
einander, um sie dann willkürlich zusammenzu-
setzen, brachte er eine fremde Note in dessen
Wesen, oder war es möglicherweise die eigentlich
wahre, da manche Künstler — Seher sind. Grübelte
er jenen zwanzig Schatten nach, „die aussehen wie
das Leid, doch es nicht sind “, um den letzten Aus-
druck zu finden, lockte er Verborgenstes aus den
Tiefen, so daß Sinne, Geist, Herz zu neuem
Leben erwachten und ein Extrakt entstand dieser
zwei, die zueinander strebten: Geschauter und
Schauender.
Wenn Schopenhauer verlangt, daß ein Porträt
ein lyrisches Gedicht sein soll, aus dem eine Per-
sönlichkeit mit ihrem ganzen Denken, Fühlen und
Wellen entgegenspricht, so könnte das Attribut
des Gedichtes jeweilig geändert werden, denn
manche fallen dramatischer aus, andere wieder
kontemplativer, und die lyrischen, um die der
Duft vergangener Dinge hängt — jener Dinge, die
man vielleicht einmal besaß, die man nicht mehr
erhofft — deren Lyrismus durch die Stärke der
Sehnsucht bestimmt wird, sind die selteneren.
Wir alle neigen dazu, Rätsel zu raten; keine
Zeitung, welche etwas auf sich hält, versäumt es
— mehr oder minder gewollt —, eine Anzahl zu
bringen. Es ist sonderbar, wie wenig Aufmerk-
samkeit dem Rebus Menschen gezollt wird. Denn
wenn dem so wäre, wetteiferte eine Bildnisaus-
stellung mit der Ueberfülle eines Warenhauses
am Ausverkaufstag, wartende Menschenschlangen
bildeten sich vor dem Eingang, als gälte es die
Eröffnung eines Monstrefilms. Indessen alle die
Gesichter berühmter Leute sehen von den Wänden
herab, bieten sozusagen ihre Mysterien feil, und
nur wenige interssieren sich für sie, gehen vor-
über, konstatieren Aehnlichkeit, rühmen künst-
lerische Qualitäten, erschauern vielleicht einen
Augenblick über das Geheimnis, welches den
Raum anfüllt, aufreizend, beklemmend wie Gei-
sterstunde im Ahnensaal. Hier sind sie zu sehen
diese Menschen, denen der Künstler nachging,
nachjagte, fasziniert, in monomanischer Be-
sessenheit, im Wechsel das Bleibende zu packen.
Heißt es nicht von Toulouse-Lautrec, daß er durch
die schwellende Pracht sommerlicher Landschaft
fahrend, in Abwehr die Vorhänge zuzog, um nicht
abgelenkt zu werden von seinem Thema, dem
Menschen. Er kannte die größte Sensation des
Lebens. Er suchte Aufschlüsse. Plato bezeichnet
mit wenigen Worten diese Suchenden: „Jene
Seele, die mehr als andere von der Wahrheit ge-
sehen hat, wird auf Erden die Seele eines Weisen
oder eines, der die Schönheit liebt, oder eines, der
Künstler ist und zu lieben weiß.“
Oder eines, der Künstler ist. Diese kleine Bild-
nisausstellung der Künstlergilde „Oper, Theater
und Film“ ist aufrührend, weil sie, so umgrenzt sie
ist, doch eindringlich zeigt, wie jeder Künstler, sei
er Bildner, Schauspieler, Musiker, vom heiligsten
Ernst für seine Aufgabe erfüllt, unaufhaltsam
strebt in dem Drange nach Wahrheit. Und das
Publikum, welches die nötige Resonanz bieten
sollte, wo ist es? Ist es blind? Ist es taub?
Gewiß, diese hinter uns liegenden Jahre, in
denen man sich über die primitiven Neigungen der
Neureichen vergnügte und das Spiel mit bunten
Glasperlen, die Freude an Lärm, an Grellem, an
Unkompliziertheit hinnahm, waren ganz inter-
essant. Aber nun sind die Schlagworte für diese
Richtung: modern und Zug der Zeit reichlich
überlebt, sie sind abgestanden, antiquiert, sie
riechen höchst unerquicklich nach Moder. Sogar
der Sport, so wertvoll und schön an sich, wird
durch die Art der Einreihung in seiner Bedeutung
verschoben. Ringkämpfern und Wettläufern ge-
bührt wohl keine größere Anerkennung als Künst-
lern, denn noch jetzt muß immerhin zugegeben
werden, daß eine Arbeit des Cinquecento Italien
mit größerem Glanze überstrahlt, als ihm alle
Kondottiere der Epoche verleihen konnten, auch
wenn ein Druck ihres Daumens genügte, um den
Gegner zu erledigen.
Unsere Zeit hat große und starke Künstler auf
allen Gebieten, aber es fehlt an Menschen, die
ihnen den Aufstieg erleichtern.
Nicht um die unteren Klassen handelt es sich,
ihr Hunger nach echter Kunst tritt deutlich zutage
in der Ueberfüllung bei guten Volksdarbietungen,
nicht um den breiten Mittelstand, der durch die
letzten Jahre aller Mittel beraubt, gegen seinen
Willen gezwungen ist, abseits zu stehen, wo er
früher fördernd eingriff.
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