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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Der Zufall als Mitarbeiter
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0215
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208

DER ZUFALL ALS MITARBEITER

zur Folge haben muss? Wie, wenn der Zufall auch
Formgeber werden will?

Der Realismus, welcher mit erfrischendem Hauch
durch unsere angewandte Kunst wehte, hat der Ge-
fahr vorgearbeitet. Man war der temperamentlosen
Maschinenarbeit müde, die eintönig und fehlerlos alle
Form abschliff und gleichsam entseelte. Nun er-
innerte man sich jener Reize der Unregelmässigkeit,
welche die arbei-
tende Hand in das
Werk hineinträgt,
und die man an
orientalischen Stik-
kereien so willig
bewundert hatte.
Denselben Beifall
finden denn auch
jetzt wieder aus
freier Hand statt
auf der Drehschei-
be geformte Thon-
waren, welche die
Urkunde ihrer Ent-
stehung noch sicht-
bar auf der Ober-
fläche tragen.

Überall rief es
nach Natur! Die
Wirklichkeitsform
mit ihren Zufalls-
bildungen gestal-
tete nicht nur die
Schmuckform um,
sondern sie be-
mächtigte sich hier
und da auch der
Grundgestalt des
Gebrauchsgegen-
standes. Vasen in

Blumengestalt,
Schmuckgefässe in
Muschelform, die
kein Schema des
Naturwesens, son-
dern fast ein ge-
treues Abbild des Einzelexemplars darstellten, ge-
wöhnten uns wieder an die prickelnde Gefälligkeit
der Linie, die nicht strikt die geometrische Vorschrift
befolgt. Wir sahen Gläser in Blumenform, die un-
gefähr — aber doch nur ungefähr — die kreisrunde
Randöffnung innehielten, und diese kleinen Ab-
weichungen von der schematischen Linie — von
feinem Künstlertakt gewollt und abgewogen — übten
auf unsere Augen die wohlthuendste Wirkung.

Übrigens lagen die Verdienste dieser Bildungen

H. Haase, Hof am Gänsemarkt in Hamburg, im Besitze des Museums für Kunst
und Gewerbe, Hamburg.

nicht so sehr nach der Richtung ihrer Neuheit, neu
im Sinne des noch nicht Dagewesenseins genommen.
Die Idee, das Naturabbild ohne ornamentale Um-
bildung einem praktischen Zwecke dienstbar zu machen,
war auch in China nicht unbekannt, und selbst in dem
Italien der Renaissancezeit stellte man wohl getrost
einen Frosch als Tintenbehälter auf den Tisch. Diese
Thatsache verkleinert natürlich nicht das Verdienst der

Du Bois, Köpping
und wie sie alle
heissen um die mo-
derne Kunstbewe-
gung, der sie den
so notwendigen
Anstoss nach der
Richtung der Na-
tur gegeben haben.
Aber auch wo
die Grundform des
Gerätes eine sym-
metrische Gestalt
hat, wie sie unter
dem doppelten
Zwange des Her-
kommens und der

traditionellen
Technik zu stände
kommt, führt die
unsymmetrische
Schmuckvertei-
lung, die nun ein-
mal an der Tages-
ordnung ist, sehr
leicht zu gewissen
Abweichungen von
dem Logischen.
Der Gefässrand,
der sich von jeher
in allerlei Experi-
mente schicken
musste, bietet da-
bei das bequemste
Versuchsfeld, wie
er denn auch die
Unregelmässigkeit
am leichtesten verträgt. Gern schiebt sich die realis-
tische Schmuckform über den Rand hinaus, tritt dann
wieder weiter zurück, so mit ihren wechselnden Kon-
turlinien die scheinbar willkürliche Bildung des Randes
entschuldigend. Auch hier eine bestimmte Absicht, die
sich nur in das Gewand des Zufalls kleidet. Aber
das Grenzgebiet, auf dem Absicht und Zufall sich be-
rühren, wird schon sehr schmal, und leicht kann hier
der Schritt ins jenseitige Gebiet sich verlieren.

Fast scheint dieser gefährliche Schritt schon ge-
 
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