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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Braun, Edmund Wilhelm: Jean Carriès
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0229
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222

JEAN CARRIES

Carries, Imagier et Potier. Etüde d'une Oeuvre et
d'une vie" 1855—94 von Arsene Alexandre,') welches
das, was ich von Carries schon kannte und wusste,
mir unendlich viel klarer gemacht, eine Fülle von Ab-
bildungen bot und vor allem durch die genaue
Schilderung seines Lebens, durch die Mitteilung von
Briefen und Äusserungen mir den Schlüssel zu seinen
Werken geboten hat. Es ist ein echt französisches
Künstlerbuch, voll intimer Grazie, voll Esprit und
zartem, femininem, selbstentäusserndem Versenken in
die glühende herrliche Seele dieses Künstlers, ein
Buch, das in seinem entzückenden Wesen ohne die
Grundlage einer alten reichen künstlerischen Kultur
und ohne Vorläufer undenk-
bar ist. Man denkt an Sten-
dhal und vor allem an den
Kunststil der Goncourts.

Jean Carries ist die voll-
kommenste Inkarnation des
Künstlers. Er lebte selbst
ein Kunstwerk. Und vom
ersten Augenblick an, da
er schuf, bis zu seinem er-
schütternden Tode, war er
ein weitabgewandtes Kind,
wild, heftig und leidenschaft-
lich, zart, sanft und lieb wie
ein Kind, nur die Kunst
sehend, nur nach ihr ver-
langend und in ihr lebend.
Arm und unverstanden ging
er durch das äussere Leben,
von einer Flut von Schmer-
zen umhüllt, ringend nach
der blauen Blume. Leiden
und Schmerz waren die Leit-
motive dieses Lebens. Und
über seinem ganzen Oeuvre
liegt ein zarter Schleier von
Melancholie und Wehmut

ausgebreitet. In ihm lagen nebeneinander die extremsten
Extasen; er war vor allem ein dionysischer Enthusiast,
ich möchte sagen das Ideal des kompliziertesten Stim-
mungsmenschen. Heine hat in seinen Liedern von
selten farbenschweren blütenreichen Märchenhainen voll
glühender grosser fremder Blumen gesungen, deren Duft
betäubt und beseeligt und die nur die Sonntagskinder,
die Künstlermenschen schauen dürfen. Einer solchen
Blume gleicht Jean Carries, der arme Lyoner Waisen-
knabe, an dessen Seite der Schmerz und das Elend
gestanden haben während seiner ganzen Jugend. Eine
schwärmerische Liebe zu seiner toten Mutter erfüllte

Jean Carries

1) Paris. Ancienne Maison Quantin. Librairies-Impri-
meries-Reunies etc. 1895.

ihn, und seinen wehmütigen Frauenbüsten ist stets
eine Erinnerung an sie immanent. Die Waisenhaus-
erziehung war einer Natur wie der seinen Tortur. Mit
13 Jahren kam er in eine Heiligenbilderfabrik, deren
Besitzer unfähig war, diese explosive und eminent
persönliche Natur zu verstehen. Nur in dem Museum,
vor den Gipsabgüssen war er glücklich, wie »zur
Messe" ging er dahin, und vor allem erregten die Ab-
güsse der herrlichen Fürstengräber zu Brou sein Ent-
zücken und seine Begeisterung.

Es gab in Lyon eine barmherzige Schwester, die
Schwester Callamand, die seit seinen ersten Tagen
eine zärtliche Teilnahme für den Knaben gehegt hatte

und die ihn jetzt darin unter-
stützte, allein und selbständig
zu arbeiten. Sie suchte ihm
Aufträge zu verschaffen, aber
plötzlich reiste er in unwider-
stehlichem Drange, wie im-
mer, nur seinem Impulse
folgend, nach Paris. Ein Bild-
hauer Pezieux erzählte Ar-
sene Alexandre, welchen Ein-
druck diese Stadt auf Carries
machte. Es ist erschütternd
und rührend, mit welchem
alles erfüllenden Enthusias-
mus, mit welcher Auf-
nahmefähigkeit all das Neue
auf Carries wirkte, welche
Offenbarungen ihm die alten
Kunstwerke und die Werke
von Carpeaux, Rüde be-
reiteten. Damals schon er-
füllte ihn der unwidersteh-
liche, alles andere verdrän-
gende Schönheitsdrang, die-
se naive, überquellende und
stürmische Freude am Schö-
nen. Man kennt jene schöne
Stelle in Maupassant's Roman „Notre coeur«, die
uns den Bildhauer Predole durch seine eigenen
Worte sowie durch das Medium des von ihm
begeisterten Lamarthe schildert. Dort heisst es (nach
M. zur Megede's Übersetzung) unter anderem: „Er
erzählte von den Eindrücken, welche die Wunder
der Kunst, die er mit eigenen Augen gesehen, auf
ihn gemacht hatten. Vor seinem künstlerischen Em-
pfinden sank jede Hülle, und ohne Scheu offenbarte
sich die seltsame Trunkenheit, die alle Formenschön-
heit durch die Augen in seine Seele goss." Ich weiss
nicht, ob Maupassant Carries gekannt hat, aber es
dünkt mich sein Wesen treffend zu bezeichnen.

In diesem Jahre 1874 wurde er in das Atelier
des Bildhauers Dumont aufgenommen, aber für diesen
 
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