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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Braun, Edmund Wilhelm: Jean Carriès
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0238
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JEAN CARRIES

231

Weib mit herabfallenden Locken „comme une jeune
Lady de 1830" und hochgegürtetem einfachen Ge-
wände und lang hinaufreichenden Handschuhen. Und
nun die Pfeiler, welche Fülle von grotesken, phantasti-
schen und humoristischen Ein-
fällen. Zickzackartig aufsteigende
Rippen und Bandwerk schaffen
einzelne Felder, in denen die
prachtvollsten, von individueller
Durcharbeitung sprühenden Köpfe
ruhen. Dazwischen die Kröten und
Frösche. Ein Meisterwerk phan-
tastischerfreier Naturgestalten! Und
dabei echt französisch. Guimets
Castell Beranger zeigt genug Ein-
flüsse von Carries.

Unterdessen hatte die Ausstel-
lung der Töpfereien im Marsfeld-
salon 1892 Carries einen durch-
schlagenden Erfolg eingebracht.

Im Sommer dieses
Jahres machte er eine Reise
nach Lyon und die Pro-
vence, und mit neuem
Entzücken betrachtete er die
herrlichen Skulpturen in
Brou, deren Gipsabgüsse
den Knaben im Museum
zu Lyon mit solcher Be-
geisterung erfüllt hatten. Er
sollte für eine Lyoner Kir-
che eine Gruppe, das Mar-
tyrium des heil. Fidelis,
arbeiten, zugleich schuf er die Büste
einer Nonne. Es waren seine letzten
Werke, und es liegt wie ein Hauch
von Todesahnung über ihnen. Er-
innerungen an seine Pflegemutter
mögen ihm bei der Gestaltung
dieses friedlichen, in sich abge-
schlossenen verklärten Frauen-
kopfes gelebt haben, dessen Augen
über die Welt hinaus sehnsuchts-
voll in das Paradies zu schauen
scheinen. Die Martyrergruppe ist
ein Lieblingswerk von ihm ge-
wesen, er träumte von einem wun-
derbaren Bronzeguss mit kost-
baren Steinen oder von einem
köstlichen Steingutwerk. Was er
geschaffen hat, ist von einer ein-
fachen Grösse und Konzentration, von eindringlicher
Charakteristik, und es ist den besten Werken alt-
französischer Kunst in Ausführung und Stimmung
ebenbürtig, echt französisch und gross. Nach all den

Vignette, gezeichnet von A. Glaser, München

kunstgewerblichen Arbeiten dies Werk der grossen
Bildnerkunst, wie um zu zeigen, was er alles noch
geleistet hätte, wäre die Krankheit nicht gekommen,
ein Lungenabscess, dem er am 1. Juli 1894 erlag.
Man gab ihm in den Sarg eines
seiner ersten geliebten Gefässe mit,
einen einfachen, kleinen grauen
Topf, aus dem Blumen hervor-
blühten.

Wir sind am Ende eines rei-
chen, aber so kurzen, blühenden
Künstlerlebens angelangt. Welche
entzückende Tiefblicke in das We-
sen der tiefsten und reinsten Kunst
haben seine Werke erschlossen,
welcher überquellenden Kraft und
Fülle des höchsten Künstlertumes
begegneten die Sinne. So kurz
dies Leben war, so hat es doch
genügt, Carries in die erste Reihe
der Grossen zu rücken.
Neben der Kraft und inne-
ren Energie der Persönlich-
keit im Wesen eines Gros-
sen wertet die Kunstge-
schichte vor allem hoch den
thatsächlichen Fortschritt,
das Neue, das dieser Persön-
lichkeit die künstlerische
Entwicklung eines Volkes,
die künstlerische Entwick-
lung überhaupt verdankt.
Und diese verdankt Car-
ries sehr viel, mehr als wir heute
zu beurteilen vermögen, die wir
in dieser Entwicklung mitten drin
stehen. Seine Bildhauerarbeiten
haben durch die eminente tech-
nische Durchbildung, mehr noch
durch die Lebenswahrheit, durch
die Feinsinnigkeit ihrer Psycho-
logie, durch Leidenschaft und
Kraft ihrer Gestaltung der Skul-
ptur neue impressionistische Qua-
litäten geschenkt.

Viktor Hugo schrieb an Beau-
delaire, den Dichter des „Fleurs
du mal», dass er einen „neuen
Schauer" geschaffen habe, aus dem
„macabre", dem Reiche der Toten.
Nun denn, Carries hat mit seinen
Werken für die Bildhauerei einen ergreifenden pak-
kenden Schauer des Lebens, den innersten beseel-
testen Lebens geschaffen.

Carries als Töpfer ist nicht minder bahnbrechend.
 
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