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Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner u. Sammler — 15.1918

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XV. Jahrgang (1917 / 1918)
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Nr. 32 (24. Mai 1918)
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https://doi.org/10.11588/diglit.54654#0227
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DER KUNSTMARKT

XV. Jahrgang 1917/1918 Nr. 32. 24. Mai 1918

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 10 Mark.
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Auktionskalender auf der vierten Umschlagseite

DIE SAMMLUNG EUGEN SCHWEITZER

Als Heinrich Wölfflin im Jahre 1895 in Italien weilte,
mit den Vorarbeiten seiner großen Aufgabe — eine mehr
oder minder widerwillige Generation der klassischen Kunst
Italiens neu zuzuführen — beschäftigt, kamen ihm selbst
Skrupel und Zweifel, ob der italienische Renaissancekanon
in der Tat der alleinseligmachende sei, und er eilte, dem
älteren Freund und Anreger Jakob Burckhardt nach Basel
von seinen Bedenken zu berichten. Burckhardt antwortet
in seiner herrlich ungebrochenen Einseitigkeit: »Wenn Sie
wieder hier sind . . . und Regen und die ersten Schnee-
flocken fallen, dann wird bittere Sehnsucht nach den ver-
schmähten Eindrücken über Sie kommen. Dann wird es
heißen: könnte ich nur das und das Altarbild dritten
Ranges und entlehnter Kunst aus der Pinacoteca muni-
cipale in Nest soundso einen Augenblick wiedersehen . . .
Denn auch das Geringe und Mittelbare in Italien kommt
doch aus einem großen Model.« Die Prophezeiung Jakob
Burckhardts ist jetzt für uns alle wahr geworden. Wenn
wir früher in Italien selbst uns gegen die Lockungen der
südlichen Formenkantilene verhärteten und in Florenz den
Portinarialtar des Goes, in Rom den Papst Innozenz des
Velasquez für die wesentlichen Kunsteindrücke erklärten, hat
uns in diesen Jahren der notgedrungenen Abstinenz die Sehn-
sucht »nach dem Altarbild dritten Ranges in Nest soundso«
mit Macht gepackt. Die Sammlung Schweitzer, die eine An-
zahl italienischer Werke vereint — in ihrer Zusammenstel-
lung einer kleinen »Pinacoteca municipale« wohl zu ver-
gleichen—kommt daher der augenblicklichen Stimmung der
Sammler und Kunstliebenden in hohem Maße entgegen.
Die Tradition für das Sammeln frühitalienischer Ge-
mälde reicht in Berlin nicht weit zurück: die erste bedeut-
same italienische Sammlung ist denn auch nicht von einem
Eingeborenen, sondern von einem in Berlin ansässigen Eng-
länder, dem Großkaufmann Solly, zusammengebracht; sein
Nachfolger wird — nach längerem Abstand — Oskar Hai-
nauer. Während diese großen Sammler in erster Linie der
zentralen Kunst von Florenz ihr Interesse zu wandten, brachte
Schweitzer eine Reihe von Werken der oberitalienischen Lokal-
schulen an sich, darunterjseltene Namen, deren Vorkommen
sonst mehr oder weniger ganz auf Italien beschränkt blieb.
Das erste Beispiel bietet Oaudenzio Ferrari: er ist
in außeritalienischen Galerien insgesamt mit wenig mehr
als einem Dutzend Nummern zur Stelle, von denen nahe-
zu die Hälfte auf die Sammlung Schweitzer entfällt. Die
Sammlung birgt zunächst das Tondo eines Verkündigungs-
engels, auf Goldgrund in strengem Profil; die zarte
helle Färbung, die fast schattenlose Modellierung des
reinen maßvollen Kopfes weisen auf des Meisters frühere
vorlionardeske Zeit. Die Darstellung jugendlicher Schön-
heit unter der Form des Engels bildete von jeher
—■ schon lange vor Lionardo — ein Lieblingsthema
der mailändischen Kunst, ebenso die Wiedergabe
jubelnder Kindlichkeit in der Gestalt des Putto: Gau-
denzio Ferraris Fresken der oberitalienischen Landkirchen
wissen denn auch, die reichen Reigen von Mädchenengeln

mit stürmischen Puttenkränzen zu vereinen. Sechs Spezi-
mina solch jubilierender und musizierender Putten sind in
die Sammlung Schweitzer verschlagen, derbe Kinder von
fröhlicher Realität; in Sepiatönen stark plastisch heraus-
gearbeitet, scheinen sie für das Rahmenwerk eines Altar-
bildes, vielleicht in Vertretung wirklicher Skulptur, beab-
sichtigt gewesen zu sein. Aus der gleichen späten Periode
des Meisters, in den gleichen bräunlichen Tönen zwei
lebendig skizzenhafte Predellenstücke. Neben Oaudenzio
steht als ein zweiter Lionardesker, der vor dem übermäch-
tigen Florentiner nicht besinnungslos kapitulierte, sondern
sich ein Weniges von Eigenart auch in die späteren
Schaffensperioden herüberrettet, Andrea Solario. Seine
Madonna der Sammlung dokumentiert zwar deutlich die
Abkehr von venezianischer Jugendtradition und Hinneigung
zu Lionardo, doch zeigt sich in der Farbengebung von
emailleartigem Schmelz, in der zarten Modellierung der
Köpfe eine dem Künstler allein eigene Note. Reizvoll vor
allem der Hintergrund: ein dichtes waldiges Dunkel, von
dem sich links der Blick über Wiesen auf bergige Fernen
öffnet. Die enge Verwandtschaft mit Solarios Verkün-
digung in Cambridge läßt das Stück um 1506 ansetzen.
Es folgt eine Reihe von Werken »schlechthinniger« Lio-
nardoschüler, die ihren Wert wiederum in der sklavischen
Abhängigkeit vom Meister tragen: Burckhardts Wort vom
»großen Model« wird hier im besonderen wahr. Eine
Madonna im Profil des Marco d’Oggiono, eine Maria
mit den Knaben Christus und Johannes von Martino
Piazza (nach Berenson ein Werk der Brüder Martino und
Alberto Piazza) leben ganz von Lionardos Gnaden; bei
den zärtlich umschlungenen Kindern der Piazzatafel denkt
man an die verwandte Gruppe, die aus Lionardos Atelier
in den Norden drang und namentlich im Kreis des Ma-
rientodmeisters vielfache Versionen erfuhr. Die heilige
Aktfigur einer Katharina von Gianpetrino mahnt in der
porzellanenen Glätte des Fleisches, in dem sorgsamen
Heraustreiben der Rundungen gleichfalls an die Frühzeit
des nordischen Romanismus. Als ausführende Hand eines
lionardesken Entwurfes sei den Mailändern der Florentiner
Bacchiaca angefügt: seine Cassonetafel der »Leda« gibt
willkommene Hilfe zur Rekonstruktion der verlorenen Kom-
position des Meisters. Wie die Schüler für Lionardo, tritt
Franciabigio für Raffael ein: in einer Madonna mit den
Kindern Jesus und Johannes; die sehr komplizierte Kom-
position, in voller Klarheit dargelegt, von gleichmäßig
schönheitlichem Lineament, gibt als echtestes Beispiel
»klassischer Kunst« der neuentfachten Italiensehnsucht
rechte Nahrung. Auch an anderer Stelle der Sammlung
schafft hie und da ein Name zweiter Ordnung glücklichen
Ersatz für den fehlenden Großmeister: so steht Jacopo
da Valenzia für Luigi Vivarini, Sellaio für Botticelli, Brescia-
nino für Andrea del Sarto, Liberale da Verona für Man-
tegna. Der Schule von Verona hat Schweitzer in be-
sonderem Maße sein Interesse zugewandt: neben Libe-
rale — mit einer etwas rustikal ausgeführten, doch
 
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