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Kurth, Ferdinand Max [Mitarb.]; Reichard, Mea [Mitarb.]
Das Kunsttheater: Zeitschrift für künstlerische Kultur — 1902

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Ernst, Paul: Die Göttin der Vernunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.65889#0025

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die ööttin der vernunft.

Novelle aus der Revolutionszeit von Paul Ern ft-

Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts lebte bei einer uralten
Tante / welche den Dienftboten ſtreng befahl und viel in Keller und
vorrathshaus wirtſchaftete / in einem alten Schlößchen mit diken Mauern
und einem ticfen / ausgetrockneten 6raben, in dem ſchöne wallnußbaume
wuchſen / ein zartes fraulein mit glänzenden Augen- sie faß viel an
einem Eckfenſter der wohnſtube und ſah von hier aus über eine ſchöne
grünc weidt / wo eine Neerde von ſchwarz und weißen kühen jerſtreut
grafte- des Abends erhob ſich ein dichter Nebel über dem fluß / welcher
die weicle begrenzte, und es jogen Streifen und Ballen jzu dem
pauſe / bis fie es encllich einhüllten. das fraulein dachte dann an die
ociſter ihrer vorfahren / die hier in vielen Kriegen und fehden gekãmpft /
von keinem Offian beſungen; ihr Andenken war verſchwunden wit
nebel vor den Strahlen tler Morgenfonne-

sie liebte nicht die laut lachenden und ſonnenverbrannten Land-
junker / welche ihr die hand ſchüttelten. Aber clamals kam in ihre
Gegend ein glaͤnzender junger herr / welcher der vertrauteſte freuncl des
benachbarten jungen erzbiſchofs wurde und an deffen hoft / denn er
war Keichsfürſt / eine hohe stelle erhielt. Als Julie ihn zum erſten Male
gelehen hatte / empfand ſie ein faſt ſchmerzhaftes Gefühl in der Bruft
und ſpürte / wie ihr das Blut zu Kopfe ftieg- Sie fragte ſich / ob das
wohl liebe ſei / und war verwundert, daß die Empfindung ganz antlers
war / als ſie ſich vorgeſtellt hatte · die nachſten Tage dachte ſie vicl an
iyn ſtellte ſich ihn in verſchiedlenen lagen vor / belonders aber, wie er
ihr erklarte / daß er ſie liebe / und ſie/ weil ſie noch nicht ſicher war,
was ihre Empfindungen bedeuteten / wußte nicht / welche Antwort ſie ihm
geben folle- Indeſſen betclachte ſie endlich / daß ſie vielleicht gar nicht
der liebe fahig fei/ denn ſie hatte auch nie vorher eine Neigung zu
einem manne verſpürt; aber da der öraf ihr ebenbürtig war / und in
den vermögensverhaltniſſen / welche den ihrigen entſprachen / auch gefund
und heiterer bemütsart / ſo beſchloß ſie endlich / ihn zu heirathen, wenn
er um ihre hand bitten follte- Sie kannte auch den erzbiſchöflichen hof
und den herren ſelbſt / welcher gerade zu ihr ſich immer ſchr freuncllich
erwieſen / unc meinte / daß ſie ſich unter tinem ſo gütigen herrſcher
baltl einleben werde-

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