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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,1.1908

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1908)
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Avenarius, Ferdinand: Das Volk und der Kaiser
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https://doi.org/10.11588/diglit.7704#0402
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Iahrg.22 Zweites Dezemderheft 1908 Hes16

Das Volk und der Kaiser

Auch eine Weihnachtsbetrachtung

der jüngsten Zert ist es unter der Dynastie im Reich hin-
» ^gegangen, wie durch eine lang beruhigte Landschaft ein schweres
^^IErdbeben geht, an dessen Möglichkeit in diesen Gauen seit Ge°
schlechtern niemand mehr gedacht hat. Keine der alten Bauten ist
gestürzt, keine scheint auch nur geborsten, — aber Risse im Ber°
borgenen sehen wir ja nicht, und nun wissen wir, daß sich bewegen
kann, was das Festeste von allem schien. Selbst Vertreter von Par°
teien, die sich durch immer gepflegte Äberlieferung, durch fast reli-
giöses Gemütsverhältnis und zugleich auch durch politische und wirt-
schaftliche Interessen mit der Krone am nächsten von allen verbunden
fühlten, traten in besonnener Entschiedenheit gegen ihren König auf.
„Das Vertrauen im Volk ist auf den Nullpunkt gesunken.« „Das
ist ja eben das Furchtbare, daß die überzeugtesten Monarchisten jetzt
dem zustimmen müssen, was ein sozialdemokratischer Redner gegen
den Kaiser spricht.« „Es schernt eine unüberbrückbare Klnft zwischen
Kaiser und Volk.« So klangen Worte von der Rechten des Reichs°
tags, und keiner hat ihnen widersprochen.

Während das im Volke und seiner Vertretung gärte, vergnügte
sich der Kaiser bei Fuchsjagd und Kabarett. Am Abend nach eben
jener bedeutungsvollsten Reichstagssitzung applaudierte er dem Frank-
furter Uniontheater-Ensemble auf einem süddeutschen Schloü; der Tele°
graphendienst mit Berlin wurde erst um Mitternacht wieder anfgenom°
men Zu ernem befreundeten Monarchen hatte er vorher von „parla-
mentarischen Schwierigkeiten« gesprochen, mit denen der Kanzler zu
^inpsen habe. Und nach dem Kanzlervortrage noch sprach Seine
Maiestat zu einem Berliner Burgermeister davon, daß „aufsteigende
Wo ken« ihre Schatten niemals trennend zwischen ihn und sein Volk
werfen sollten. Es ist beim Kanzler. es ist beim Parlament etwas
in Unordnung, es ist eine „Wolke« da, die, ungesagt woher, zwischen
ihn und das Volt gekommen ist — er selbst ist als Arsache irgendwelcher
Art da uberhaupt nicht beteiligt. Zur Bessernng der Lage ist er
bereit, auf ihm liebe Gewohnheiten zu verzichten. und er beweist
das durch Handlungen, üie ihm außerordentlich schwerfallen müssen.
Auch ein Wort würde ja nur wenig sein, aber wir haben bis zu
dem Tag, da ich diese Zeilen schreibe, noch nicht einmal ein Wort
zum Beweise dafür, daß der Kaiser überhaupt eine Schuld
bei sich selber sieht. Obgleich doch in all den Iahren seit
Bismarcks Abgang zwische» allem Kommen und Gehen der politi-
schen Männer nur einer immer geblieben ist, e r. Nur einer immev
an der wpitze stand in all diesen Iahren eines jetzt zögernden, jetzt
beschleunigten politischcn Niedergangs aus stolzester Höhe zur Ver°
einsamung, ja zu eincr Verspottung, über die unserseits zu lachen
uns leider nur mit Bitterkeit glücken will.

2. Dezemberheft ch08 I
 
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