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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1927)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Die Illusion des Selbstgenügens: eine Rede über menschliche Beziehungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0110

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wieder, daß wir in den Haß nur verbannk sind. Der Haß ist Exil. Unsre
Heimak isl die Liebe, wir gehören dem Geist, der verbindek und versöhnk; zum
ewigen Aufbruch sind wir bestimmk, nichL zum siumpfen Beharren. Wir sahen
diesen Menschen GoeLhe aus einem Überschwang an Liebe die Arme ausbreiLen
und kühn alles Lebende ans Herz schließen. Wir sahen die MenschheiL sich
verjüngen, das Leben sich erfrischen und neu beginnen, anseHend znm „üoclns
Lno",zum Weg welLauf, der in lauLer Lichk und Weike führk. Jn dieser Jphi-
genie lebk der Geist, der Menschen liebend gesellk. Frei blickk er aus der Hafk
des einen Lebens in Herz und Ange des sremden Lebens hinüber und verstehk
sich dork so guk wie in sich selbst.

Das ist die eigenkliche Würde der Menschengesellung, daß sie an den Geist
und an die Liebe gebunden ist. Wenn heuLe der gesellige Trieb gefährdek er-
scheink, wenn die Lufk zwischen den Menschen kalL und dünn geworden ist, so
ist das ohne weikeres zu lesen als eine Erkrankuug des Geistes, als cine Ebbe
des Geistes, als ein ÄlLwerden und Verdorren.

Es war oben von dem KulLus der FreundschafL die Rede, der zu Goekhes
JugcndzeiL in Dmtschland geübL wurde. Um die Große Landgräfin von Hessen
bildcLe sich damals jener Kreis von Menschcn, der als die „DarmstädLer Emp-
findsamen" bekannL gewordcn ist. Man durchschwärmte die Wälder und die
Wiesengründe, Goekhe an Lilas SeiLe, Merck oder Leuchsenring, der „Paker
Brey", an der SeiLe Psyches, der Karoline Flachsland; Lavaker, Wieland,
Sofie Laroche und andre gesellkcn sich gelegenLlich hinzu; überschwängliche
Gefühle loderten zum Himmel, überschwängliche Briese und Gedichte legten
Zeugnis ab von dcr Wärme, die diese Menschen einhüllke. Wir lächeln heuke
über diesen Triumph der EmpfindsamkeiL. 2lber es war einer der Frühlinge
der deukschen Seele, und von den FrüchLen, die er nachmals brachte, zehren wir
heuke noch.

Wir sind nichk empfindsam, wir sind nichk mik überquellenden Wärmegefühlen
gesegneL, wie die Frau RaL GoeLhe, die nichL einmal ein kaltfarbiges Kleid an
sich leiden mochke. 2lber dafür kennen wir das Grauen der Einsamkei'L, die
2lngst und den 2lufschrei, den Schrecken der Maske, die Sinnenkleerung der
Welk, das kalte Leben; wir kennen den Haß, die groteske Fronie, den UnLer-
gang. Wann werden wir wieder begreifen, daß dies EinsamkeiLserkrankungen
sind, Skrafen für Licblosi'gkeiL und Geistesdürre? Fn unseren Tagen ist erfun-
den worden — ich denke an Theodor Lessing —, daß die Welkgeschichke eine
vom Menschen geleisteke Sinngebung des Sinnlosen sei. Es wäre an der Zeit,
wir begännen wieder einzusehen, daß nicht wir der Welk und ihrer GeschichLe
unseren Sinn geben, sondern daß wir unseren Sinn von ihrem Sinn
empfangen. Wir wisscn nichts mehr vom ParLner, das heißk: wir wissen
nichts mehr von unsrer 2lngewiesenheik auf den ParLner. Wir leben in der
FikLion eines Selbstgenügens und haben vergessen, daß wir alles EnLscheidende
dem llmstand verdanken, daß wir nicht allein sind, weder im HeiligLum
des innern, noch im äußeren Leben. Wir glauben als späke Pkachfahren des
Jdealismus der Welk eine Ordnung erst zu bringen. 2lber die WelL ist nichk
ekwa deswegen in Ordnung, wcil wir sie geistig geordnet haben, sondern w i r
sind in Ordnung, weil die Welk in Ordnung ist und ständig ordnend aus uns
einwirkk. Gäben sich nicht die Frühlinge und die Wälder, die Psebenmcnschen

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