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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 21
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0346

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hat sich, bewußt oder unbewußt, sofort auf die Seite des
Proletariats gestellt. Die französische Kunst und Literatur
ist seit einem Menschenalter in ihren Hauptvertretern klar
oder unklar sozialistisch gewesen; die begeisterte Teilnahme
der Künstler, und zwar der großen Künstler von euro-
päischem Ruf, an der Pariser Kommune ist bekannt. Jn
England ist es genau so, ja, die gegenwärtige Richtung
der englischen Kunst ist von Leuten hervorgerufen, die be-
wußt im Arbeiterlager stehen. Warum diese Dinge nicht
ofsenkundiger sind, wird klar, wenn man bedenkt, daß nie-
mand von der Bourgeoisie abhängiger ist, als der Künstler,
und daß er daher sehr vorsichtig sein muß mit der Äußerung
seiner Meinung.

Und es ist ja klar, daß die Emanzipation des Prole-
ariats auch der Kunst den bis dahin enormsten Auf-
schwung geben müßte. Die Masse des Volkes ist dann
in den Stand gesetzt, am geistigen Leben der Nation teil-
zunehmen; das Publikum des Künstlers bilden dann nicht
mehr ein paar gebildete Bourgeois, sondern das gesamte
Volk, mit dem er jetzt gar keinen geistigen Zusammenhang
hat. Und welche Begier dieses hat, an diesem höheren
Leben teilzunehmen, das zeigt die begeisterte Aufnahme,
welche die Freien Volksbühnen fanden, die nun unterdrückt
sind, das Verständnis, welches hier die schwiorigsten mo-
dernen Stücke von höchster künstlerischen Kompliziertheit
sanden, während in den Bourgeoistheatern seichte Possen
und Unanständigkeiten unter wieherndein Gelächter der
Zuschauer aufgeführt werden.

Was es für eine Kunst bedeutet, im Zusammenhang
mit dem gesamten Volksleben zu stehen, das sehen wir
an der Kunst des Altertums und der Renaissance. Der
erste italienische Dichter der Renaissance, der, von dem
Dante gelernt hat, das Mittelalter abzustreifen, war Ango-
lieri Lecco, ein Eseltreiber; die schönsten Abschristen von
Dantes Göttlicher Komödie stammen aus dem Besitz
florentinischer Handarbeiter. Die Maler, die Bildhauer
schufen sür ihr Volk, Volk im wahrsten Sinne des Wortes.
Heute haben wir nur eine Luxuskunst für die oberen Zehn-
tausend, und für das Volk ist auch dieser Tisch nicht ge-
deckt. Das hat aber zur Folge gehabt, daß der ganzen
modernen Kunst der Lebensnerv fehlte.

Auch die materielle Seite der Sache wird dann ihre
befriedigende Lösung finden. Die Unnatur, daß ein Kunst-
werk Ware wird, wird dann aufhören. Wie jeder Arbeiter,
so wird auch der Künstler srei schaffen können, wie er
will: die Arbeit der anderen, die durch seine Werke ersreut
werden, wird ihn mit ernähren. Wie in der Renaissance,
wo noch aus dem Mittelalter her das Verständnis sür
die Würde der geistigen Arbeit gerettet war, in vielen
Fällen der Künstler von einem Einzelnen oder einem Staat
erhalten wurde und nun ungehemmt arbeiten konnte, so
wird auch künstig die Gesellschaft die Kunst zu halten
wissen."

Soweit das sozialdemokratische Blatt. Selbstver-
ständlich ist seine Ansicht einseitig, wie jede Betrachtung
eines Gegenstandes von einem Parteistandpunkte aus ein-
seitig sein muß, sei dieser Standpunkt nun der „umstürz-
lerische" oder der „staatserhaltende". Sollten die Schlüsse
des Verfassers auf die Kunst im Zukunftsstaate unanfecht-
bar werden, so mühte er zunächst die oft ausgesprochenen
Besorgnisse gegen die Verkümmerung der sreien Persön-
lichkeit im sozialdemokratischen Staate widerlegen. Frei-
lich, ein Zeitungs-Leitartikel braucht keine wissenschaft-
liche Abhandlung zu sein. Und das möchte ich alle Ein-

geweihten unter unsern Lesern fragen: schildert der Verfasser
die Verhältnisse unserer Gegenwart zu schwarz? Er hat
leider zum Erschrecken recht. llnd wer die Verhältnisse kennt,
muß ihm auch zugeben, daß der Sozialdemokratie schon
jetzt in Deutschland von Jahr zu Jahr in stärkeren Haufen
die Gefolgsleute aus der Künstlerwelt zuwandern. Ach,
es sind nicht die'schlechtesten, die der heutige Staat so
verliert; es sind sogar Menschen genug darunter, denen
selbst die als ganz eigentlich staatserhaltend gepriesenen
Tugenden Vaterlandsliebe, religiöses Gefühl und Familien-
sinn durchaus nicht abgehen. Das sind Jdealisten, die bei
dem redereichen und thatenarmen Vertuschen und Beschö-
nigen der herrschenden Gesellschast ungefähr so denken:
schlechter als es ist, kann's nicht werden, hoffentlich
wird's nach dem „Umsturz" besser. Wer dem Fortschritte
der Kultur ehrlich dienen will, thut, scheint uns, wohl !
daran, vor dieser Bewegung die Augen deshalb nicht zu-
zumachen, weil es ihm unerfreulich sein mag, sie zu
sehen.

» HZericbt übcr vcrmiscbtes.

Berliner Bericht.

Daß ein so großer Stillstand in allen künstlerischen
Dingen eintreten würde, hätte man nach den Verspreeh-
ungen, die sich an die kleine Weltausstellung in Treptow
knüpsten, nicht gedacht. Das Ergebnis des Sommers ist
jetzt schon da: Berlin ist so großen Unternehmungen
nicht gewachsen. Wie das Licht da draußen alle Augen-
blicke versagt und die Luftballons zerplatzen und die
Wasser nicht hüpsen wollen, so will noch mancherlei an-
deres versagen, zerplatzen oder doch nicht recht hüpfen.
Berlin hatte sich zu einer kleinen Weltstadt-Kultur ge-
rüstet, und es wird vielleicht einen kleinen Weltkrach er-
leben. Wo bleibt der große Zug, der triumphale Charakter?

Jn der Ausstellung war vom Meister Sehring
ein Theater gebaut worden, das unter dem Titel
„Alt-Berlin" eine Reihe historischer Dramen aus .Berlins
Vergangenheit bringen sollte. Man begann mit einem
Stück Ernsts von Wolzogen „Schwere Not." Da war
ein unangenehmer Bischofschreiber zu sehen, der eine vor-
nehme Dame verführen wollte, worüber die Stadt Berlin
schließlich in Flammen aufging. Zwischen jenen und
diesen Flammen war das mittelalterliche Zeitbild einge-
spannt, mit Possenreißern, die vom falschen Waldemar
erzählen, süchsischen Herzögen, die einen gewaltigen Durst
haben, Rittern, die in dieser Bürgerstadt erschlagen wer-
den, Volksfesten, Jntriguen, Kameelen und Pferden —
ein buntes, geschickt gezimmertes Durcheinander, in dem
alle Empsindungen, alle Rollen, alle Lebensalter, alle
Kulturteilchen ihre passende Stelle hatten. Nach diesem
Schaustück wälzten sich noch einige andere Einakter über
die Bühne, bis man schließlich die letzten Verfasser, die
etwas aus der „Jetztzeit" servierten, bat, aus dem einen
Akt doch drei zu machen, auf daß es eine richtige Posse
gäbe. Jetzt war man von der ganzen Jdee schon so
weit abgekommen, daß man sich entschuldigen mußte.
Man entschuldigte sich damit, daß diese Posse „Fiddicke
und Sohn" drei Generationen vorführe, Großvater
Fiddicke, Vater Fiddicke und Sohn Fiddicke: insofern
habe sie einen historischen Wert. Damit wurde das
Theater bankerott, und nun zogen die Liliputaner hinein,
auf deren historische Begründung man noch gespannt ist.

Ein wenig glücklicher, als dns Theater, war die
Illuminntion der Ausstellung. Jllumination könnte
 
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