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I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
1.2. Visionen und Hagiographie als Foren des Sozialen, oder:
Diskursgeschichtliche Ansätze in der Gruppenforschung
Bereits die von Wulfstan gewählte , Kommunikationsform' eines Baumes voller
Kutten verdeutlicht, dass es sich bei seinem Gruppenentwurf um ein gedachtes
Modell, um einen idealisierten Ordnungsentwurf handelt, der weniger auf die
Erfassung von bestehenden sozialen Verhältnissen abzielt, sondern vielmehr auf
die Produktion einer gewollten beziehungsweise gesellten sozialen Wirklichkeit
fokussiert ist.51 Der Autor bediente sich des Mediums der Vision, des göttlich
Geoffenbarten, um die beschriebenen Zustände letztgültig zu legitimieren, und
codierte seine Aussagen zudem in einem sprachlichen Bild, welches eine orga-
nische, natürliche' Verwobenheit der Individuen evoziert und so den ver-
meintlich artifiziellen, willkürlichen Charakter der Bindungen transzendiert.52
Zwar thematisiert der Entwurf durchaus die „Gegebenheiten" der sozialen
Gruppe, indem er etwa die „Regeln und Normen" in Form des monastischen
Ideals des (intensivierten) Gottesdienstes und damit des Strebens nach Erlösung
implizit nennt oder mit der Vorrangstellung /Ethewolds einen Aspekt der „in-
nere[n] Organisiertheit" der Gruppe thematisiert. Auch die „relative Dauer und
Kontinuität in der Zeit" wird mit dem schlussendlichen Aufgehen der irdischen
Gruppe in der himmlischen societas in eindrücklicher Weise angesprochen, wo-
durch ihr temporaler, diesseitiger und somit vergänglicher Charakter gar ganz
aufgehoben wird: Zeitsemantisch bildet die Ewigkeit den zentralen Fluchtpunkt
der Gruppe. Über die „Abgrenzung nach außen" erfahren wir hingegen an
dieser Stelle nichts und auch funktionale Differenzierungen innerhalb der
Gruppe sowie Interaktionsformen mit ihrem sozialen Umfeld werden nicht
näher thematisiert.
Dieser visionär-normative Charakter der Gruppenbeschreibung, ihre Ver-
ortung in einem hagiographischen Erzählhorizont sowie die nur selektive Be-
rücksichtigung von Umfeld und Binnenstruktur werfen die Frage auf, inwiefern
die von /Ethelwold angeleiteten Mönche überhaupt als soziale Gruppe aufge-
fasst werden können. Denn mit den oben angesprochenen Faktoren „Vorhan-
densein von Regeln und Normen, [...] Abgrenzung nach außen, [...] innere
Organisiertheit [...] [und] relative Dauer und Kontinuität in der Zeit"53 sind eben
51 Vgl. hierzu die oben getroffenen Beobachtungen.
52 Zur durch die Baummetaphorik verliehenen Aura der Natürlichkeit vgl. etwa die Anmerkungen
bei Hecht, Repräsentationen, S. 56 f., zu vormodernen Stammbäumen sowie zur Baummeta-
phorik im Mittelalter allgemein, ebd., S. 45, mit weiterführender Literatur.
53 So der Kriterienkatalog bei Oexle, Gruppen, S. 17. Oexle grenzt sich dabei ebd., S. 17-19, insbes.
von der französischen Sociabilite-Forschung ab, in deren Ausweitung des Gruppenbegriffes auf
nahezu jede okkasionelle Vergemeinschaftungsform - ohne Berücksichtigung der „unter-
schiedlichen typologischen Prägungen" - er ein methodisches Defizit sieht. Oexles Erkennt-
nisinteresse richtet sich demgegenüber eindeutig auf die „formellen Gruppen". Wenngleich die
bei Oexle genannten Kriterien durchaus eine gewisse Repräsentativität für die mediävistische
Gruppenforschung beanspruchen können, wie nicht zuletzt deren Rezeption bei Müller, Spe-
cimen, S. 141, zeigt, so gilt es zu beachten, dass es sich hierbei nicht um die einzige diskutierte
I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
1.2. Visionen und Hagiographie als Foren des Sozialen, oder:
Diskursgeschichtliche Ansätze in der Gruppenforschung
Bereits die von Wulfstan gewählte , Kommunikationsform' eines Baumes voller
Kutten verdeutlicht, dass es sich bei seinem Gruppenentwurf um ein gedachtes
Modell, um einen idealisierten Ordnungsentwurf handelt, der weniger auf die
Erfassung von bestehenden sozialen Verhältnissen abzielt, sondern vielmehr auf
die Produktion einer gewollten beziehungsweise gesellten sozialen Wirklichkeit
fokussiert ist.51 Der Autor bediente sich des Mediums der Vision, des göttlich
Geoffenbarten, um die beschriebenen Zustände letztgültig zu legitimieren, und
codierte seine Aussagen zudem in einem sprachlichen Bild, welches eine orga-
nische, natürliche' Verwobenheit der Individuen evoziert und so den ver-
meintlich artifiziellen, willkürlichen Charakter der Bindungen transzendiert.52
Zwar thematisiert der Entwurf durchaus die „Gegebenheiten" der sozialen
Gruppe, indem er etwa die „Regeln und Normen" in Form des monastischen
Ideals des (intensivierten) Gottesdienstes und damit des Strebens nach Erlösung
implizit nennt oder mit der Vorrangstellung /Ethewolds einen Aspekt der „in-
nere[n] Organisiertheit" der Gruppe thematisiert. Auch die „relative Dauer und
Kontinuität in der Zeit" wird mit dem schlussendlichen Aufgehen der irdischen
Gruppe in der himmlischen societas in eindrücklicher Weise angesprochen, wo-
durch ihr temporaler, diesseitiger und somit vergänglicher Charakter gar ganz
aufgehoben wird: Zeitsemantisch bildet die Ewigkeit den zentralen Fluchtpunkt
der Gruppe. Über die „Abgrenzung nach außen" erfahren wir hingegen an
dieser Stelle nichts und auch funktionale Differenzierungen innerhalb der
Gruppe sowie Interaktionsformen mit ihrem sozialen Umfeld werden nicht
näher thematisiert.
Dieser visionär-normative Charakter der Gruppenbeschreibung, ihre Ver-
ortung in einem hagiographischen Erzählhorizont sowie die nur selektive Be-
rücksichtigung von Umfeld und Binnenstruktur werfen die Frage auf, inwiefern
die von /Ethelwold angeleiteten Mönche überhaupt als soziale Gruppe aufge-
fasst werden können. Denn mit den oben angesprochenen Faktoren „Vorhan-
densein von Regeln und Normen, [...] Abgrenzung nach außen, [...] innere
Organisiertheit [...] [und] relative Dauer und Kontinuität in der Zeit"53 sind eben
51 Vgl. hierzu die oben getroffenen Beobachtungen.
52 Zur durch die Baummetaphorik verliehenen Aura der Natürlichkeit vgl. etwa die Anmerkungen
bei Hecht, Repräsentationen, S. 56 f., zu vormodernen Stammbäumen sowie zur Baummeta-
phorik im Mittelalter allgemein, ebd., S. 45, mit weiterführender Literatur.
53 So der Kriterienkatalog bei Oexle, Gruppen, S. 17. Oexle grenzt sich dabei ebd., S. 17-19, insbes.
von der französischen Sociabilite-Forschung ab, in deren Ausweitung des Gruppenbegriffes auf
nahezu jede okkasionelle Vergemeinschaftungsform - ohne Berücksichtigung der „unter-
schiedlichen typologischen Prägungen" - er ein methodisches Defizit sieht. Oexles Erkennt-
nisinteresse richtet sich demgegenüber eindeutig auf die „formellen Gruppen". Wenngleich die
bei Oexle genannten Kriterien durchaus eine gewisse Repräsentativität für die mediävistische
Gruppenforschung beanspruchen können, wie nicht zuletzt deren Rezeption bei Müller, Spe-
cimen, S. 141, zeigt, so gilt es zu beachten, dass es sich hierbei nicht um die einzige diskutierte