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IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"
normannischen Eroberung ein umfangreiches hagiographisches Dossier, wel-
ches auch mehrere Texte zu weiblichen Heiligen umfasst.1766 Dabei erscheinen
insbesondere die Werke zu Edith, einer unehelichen Tochter König Edgars,
welche Äbtissin von Wilton gewesen ist, lohnend, lassen sich über den Vater
doch eindeutig Bezüge zum ,benediktinischen' Reformkontext her stellen.1767
Ebenso könnten Viten weiblicher Heiliger aus anderen Reformkontexten als
Vergleichsfolie herangezogen werden. Erst auf Basis einer solchen Ausweitung
des Quellenkorpus ließe sich nach der geschlechtlichen Codierung von Re-
formidentitäten fragen.
IV.5. Reformer - eine Kategorie für die
Geschichtswissenschaft!
Gilbert legitimiert den Wechsel Lanfrancs in den Archiepiskopat von Canterbury
vor allem über sein vertieftes Verständnis der Prinzipien einer christlichen Le-
bensführung, welche auf diese Weise in das englische Königreich übertragen
werden sollen. Laut dem Hagiographen habe Wilhelm selbst die Übersiedlung
ad transmarina gegenüber Herluin explizit ob religionis sacre institutionem traden-
dam Anglis gefordert, wie auch die zuvor erfolgte Auswahl des Kandidaten für
den Erzstuhl wesentlich durch die Überlegungen des Herrschers ad meliorandos
ecclesiarum Status in seinem neuen Reich motiviert gewesen sei. Schließlich lasse
sich die reiche Frucht Lanfrancs an der neuen Wirkungsstätte und damit der
Erfolg der Maßnahme - gleichsam spiegelbildlich zum Ausgangsgedanken
Wilhelms - am innovatus usquequaque ecclesiastice Status ablesen. Auf die gott-
gefällige Perfektionierung der eigenen Lebensweise im monastischen Bereich
folgt mithin die breitenwirksame Implementierung der hierdurch gefestigten
Werteorientierung in der Gesamtgesellschaft durch die Übernahme einer welt-
kirchlichen Leitungsfunktion. Vita activa und vita contemplativa werden von
Lanfranc also produktiv miteinander verbunden, sodass sich der Erzbischof dem
analytischen Begriffsverständnis der vorliegenden Arbeit folgend als Reformer
1766 Vgl. zu Goscelin den Überblick bei Bihrer, Begegnungen, S. 152f. mit den entsprechenden
Querverweisen sowie der dort genannten Literatur. Auch Foot, Women, Bd. 1, S. 12f., spricht das
Dossier Goscelins als potenzielle Quellengrundlage an.
1767 Vgl. zu Goscelins Viten mit weiblichen Protagonistinnen allgemein Love, Depiction, zu seiner
Vita und Translatio für die Heilige Edith Hollis, Wilton, Dies., Edith, sowie Wilmart, Legende, mit
einer Edition des Korpus. Dabei gilt es quellenkritisch zu beachten, dass Werke wie die Vita
Sanctae Edithae oder die Translatio Edithae nur noch bedingt jenem Reformkontext zugeordnet
werden können, auf den sie thematisch rekurrieren. Denn Goscelin gehörte der ,benediktini-
schen' Reformgruppe selbst sicher nicht an und dürfte die Lebensgeschichte seinen eigenen,
zeitgenössischen Interessen und Vorstellungen angepasst haben. Dass dem flämischen Mönch
gleichwohl eine reformorientierte Gesinnung gerade bezüglich des weiblichen Religiosentums
zugesprochen werden kann, legt der Liber confortatorius nahe. Hierbei handelt es sich um einen
Traktat, welcher der Erbauung und Unterweisung einer Rekluse mit Namen Eva dienen sollte.
Vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen, S. 219 f., mit weiterführender Literatur.
IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"
normannischen Eroberung ein umfangreiches hagiographisches Dossier, wel-
ches auch mehrere Texte zu weiblichen Heiligen umfasst.1766 Dabei erscheinen
insbesondere die Werke zu Edith, einer unehelichen Tochter König Edgars,
welche Äbtissin von Wilton gewesen ist, lohnend, lassen sich über den Vater
doch eindeutig Bezüge zum ,benediktinischen' Reformkontext her stellen.1767
Ebenso könnten Viten weiblicher Heiliger aus anderen Reformkontexten als
Vergleichsfolie herangezogen werden. Erst auf Basis einer solchen Ausweitung
des Quellenkorpus ließe sich nach der geschlechtlichen Codierung von Re-
formidentitäten fragen.
IV.5. Reformer - eine Kategorie für die
Geschichtswissenschaft!
Gilbert legitimiert den Wechsel Lanfrancs in den Archiepiskopat von Canterbury
vor allem über sein vertieftes Verständnis der Prinzipien einer christlichen Le-
bensführung, welche auf diese Weise in das englische Königreich übertragen
werden sollen. Laut dem Hagiographen habe Wilhelm selbst die Übersiedlung
ad transmarina gegenüber Herluin explizit ob religionis sacre institutionem traden-
dam Anglis gefordert, wie auch die zuvor erfolgte Auswahl des Kandidaten für
den Erzstuhl wesentlich durch die Überlegungen des Herrschers ad meliorandos
ecclesiarum Status in seinem neuen Reich motiviert gewesen sei. Schließlich lasse
sich die reiche Frucht Lanfrancs an der neuen Wirkungsstätte und damit der
Erfolg der Maßnahme - gleichsam spiegelbildlich zum Ausgangsgedanken
Wilhelms - am innovatus usquequaque ecclesiastice Status ablesen. Auf die gott-
gefällige Perfektionierung der eigenen Lebensweise im monastischen Bereich
folgt mithin die breitenwirksame Implementierung der hierdurch gefestigten
Werteorientierung in der Gesamtgesellschaft durch die Übernahme einer welt-
kirchlichen Leitungsfunktion. Vita activa und vita contemplativa werden von
Lanfranc also produktiv miteinander verbunden, sodass sich der Erzbischof dem
analytischen Begriffsverständnis der vorliegenden Arbeit folgend als Reformer
1766 Vgl. zu Goscelin den Überblick bei Bihrer, Begegnungen, S. 152f. mit den entsprechenden
Querverweisen sowie der dort genannten Literatur. Auch Foot, Women, Bd. 1, S. 12f., spricht das
Dossier Goscelins als potenzielle Quellengrundlage an.
1767 Vgl. zu Goscelins Viten mit weiblichen Protagonistinnen allgemein Love, Depiction, zu seiner
Vita und Translatio für die Heilige Edith Hollis, Wilton, Dies., Edith, sowie Wilmart, Legende, mit
einer Edition des Korpus. Dabei gilt es quellenkritisch zu beachten, dass Werke wie die Vita
Sanctae Edithae oder die Translatio Edithae nur noch bedingt jenem Reformkontext zugeordnet
werden können, auf den sie thematisch rekurrieren. Denn Goscelin gehörte der ,benediktini-
schen' Reformgruppe selbst sicher nicht an und dürfte die Lebensgeschichte seinen eigenen,
zeitgenössischen Interessen und Vorstellungen angepasst haben. Dass dem flämischen Mönch
gleichwohl eine reformorientierte Gesinnung gerade bezüglich des weiblichen Religiosentums
zugesprochen werden kann, legt der Liber confortatorius nahe. Hierbei handelt es sich um einen
Traktat, welcher der Erbauung und Unterweisung einer Rekluse mit Namen Eva dienen sollte.
Vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen, S. 219 f., mit weiterführender Literatur.