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Bruhn, Stephan; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Contr.]; Jan Thorbecke Verlag [Contr.]; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0505

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504

IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"

IV. 1. Mönche züchtigen, Kleriker bändigen und das Volk
erziehen, oder: Handeln im Zeichen einer gottgefälligen
Gesellschaft als strukturgebendes Merkmal mittelalterlicher
Reformdiskurse
Ein wesentliches Element in Gilberts Rechtfertigung von Lanfrancs Wechsel aus
seiner vorherigen Stellung als Abt von St. Stephan in Caen1635 in den Archiepis-
kopat von Canterbury bildet dessen heilsames Agieren an seiner neuen Wir-
kungsstätte: Das religiöse Leben in England wird durch den neuen Erzbischof in
einem umfassenden und grundlegenden Sinne erneuert. Dabei ist entscheidend,
dass der Übergang in eine weltkirchliche Funktion zugleich eine Erweiterung
des Resonanzraums von Lanfrancs Lehren bedingt, die nicht allein geographisch
zu deuten ist. Zwar weist Gilbert darauf hin, dass der Prälat in seiner Zeit als
normannischer Mönch bereits alias omnes per patriam [...] ecclesias unterwiesen
habe. Erst nach der Erhebung zum Erzbischof werden allerdings konkrete,
gruppenspezifische Maßnahmen benannt, die zudem über den Kreis geistlicher
Funktionsträger hinausweisen: der laikalen Zügellosigkeit der Mönche setzt er
der Zucht der besten Klöster entsprechend ein Ende; den Weltklerikern ver-
ordnet er ein regelhaftes Leben; das Volk bringt er vom Irrglauben ab und leitet es
zu einem gottesfürchtigen Leben an. Die von Lanfranc vermittelte religionis sacre
institutionem zielt mithin auf eine Erneuerung der Gottgefälligkeit in allen ge-
sellschaftlichen Teilgruppen ab. Die hierdurch implizierte religiöse Regelhaf-
tigkeit der Lebensführung wird dabei nicht absolut definiert, sondern an die
jeweilige Statusgruppe angepasst.
Damit entspricht das von Gilbert gezeichnete Bild gleich in zweifacher
Hinsicht den Befunden, die in dieser Arbeit mit Blick auf die alfredianischen und
,benediktinischen' Reformen herausgearbeitet worden sind: Zum einen bildet
die Wiederherstellung einer gottgefälligen Gesamtgesellschaft das eigentliche
Ziel und damit den letztgültigen Fluchtpunkt von Lanfrancs Maßnahmen. Das
reformorientierte Handeln ist mithin nicht auf das religiöse Expertentum in
Form von Klerus und Mönchtum beschränkt, sondern holistisch angelegt. Zum
anderen bedingt dieses Ziel einen spezifischen Werdegang, der durch das Le-
bensideal der vita mixta gekennzeichnet ist: Lanfranc verharrt nicht im Welt-
entzug des Mönchtums, sondern übernimmt eine pastorale Verantwortung, um
den eigenen Idealen zu einer breiteren Resonanz zu verhelfen. Das Lanfranc von
Gilbert attestierte Wirken im anglo-normannischen England leitet somit zu der
Frage nach Kontinuitäten und Zäsuren, Transformationen und Brüchen im
englischen wie mittelalterlichen Reformdiskurs allgemein über. Denn auf den
ersten Blick scheint sich das Verständnis der Grundcharakteristika, die einen

1635 Lanfranc wurde 1063 von Herzog Wilhelm zum Abt der neugegründeten Gemeinschaft in Caen
ernannt. VgL hierzu Cowdrey, Lanfranc, S. 445. Gilbert verzeichnet die Ernennung nur knapp.
Vgl. hierzu Gilbert Crsipin, Vita Herluini, Cap. 76.
 
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