IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"
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verwurzelt sind, dass sie neue Triebe hervorbringen. Aus dem Verlust entsteht
dem Konvent also langfristig kein Nachteil. Auch diese Sprösslinge sind Teil der
von Gilbert präsentierten Auslegung. So benennt er nach einem kurzen Einschub
zu einem Besuch Herluins in England ebenjene anderen großen Bäume, die in Le
Bec emporgewachsen seien: allen voran Anselm, zunächst Nachfolger Herluins
im Abbatiat von Le Bec, dann derjenige Lanfrancs im Archiepiskopat von
Canterbury, ferner die Abte Wilhelm von Cormeilles und Heinrich von Battle
Abbey sowie schließlich die aufeinanderfolgenden Bischöfe von Rochester, Ar-
nost und Gundulf.1633 Noch plastischer als in dem Traumgesicht in der
/Ethelwoldsvita wird bei Gilbert Crispin also das soziale Umfeld profiliert,
welches aus der eruditio der im Zentrum stehenden Leitfigur erwächst und
dementsprechend ebenfalls Karriere in der anglo-normannischen Kirche
macht.1634
Gerade diese Plastizität weist aber neben Parallelen auch auf Unterschiede
zwischen den Baumvisionen hin. Daher soll die Erzählung um den umge-
pflanzten Baum - analog zu ihrem Pendant aus der Einleitung - im Folgenden als
Rahmen dienen, wenn von den Ergebnissen der Arbeit ausgehend einige über-
geordnete Folgerungen und weiterführende Perspektiven für die Mediävistik
formuliert werden. Denn einerseits können so die Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede zwischen den alfredianischen und den ,benediktinischen' Reformen
näher konturiert und der Blick auf das bearbeitete Themenfeld geschärft werden.
Andererseits sollen die anhand der Fallbeispiele erarbeiteten Befunde für wei-
tergehende Fragestellungen anknüpfungsfähig gemacht werden, die über das
spätangelsächsische England hinausweisen. Anstelle einer herkömmlichen Zu-
sammenfassung wird die Arbeit daher durch sechs Plädoyers beschlossen, die
im Rekurs auf einzelne Aspekte der vorstehenden Untersuchung weiterführende
Ideen und (Hypo-)Thesen entwerfen, mithin weniger rekapitulierend als viel-
mehr prospektiv angelegt sind.
1633 Arbor fructibus optima fuit uenerabilis Anselmus ecclesie Augustensis clericus, qui illum doctorem
maximum ad ordinem monachorum subsecutus ad prioratum quoque eiusdem cenobii Beccensis post eum
accessit, et defuncto beate memorie supradicto Herluino abbati successit; ac demum post ipsum Lan-
francum archiepiscopus Cantuariensis extitit. [...] Arbor fructuum iocunditate plurimum acceptabilis
fuit ecclesie Cormeliensis abbas Willemus, prime nutritus et eruditus. Arbor alta atque fructuosa extitit
Henricus Cantuariensis ecclesie decanus, qui postmodum abbas fuit de Bello, uir ecclesiasticis omnibus
disciplinis optime instructus. Arbores bonorum operum fertilitate multum grauide in domo Domini
extiterunt uenerabilis Hernostus ecclesie Rofensis episcopus, et qui ei ad idem officium ibidem successit,
uir morum sanctitate admodum reuerendus, Gundulfus episcopus. Gilbert Crsipin, Vita Herluini,
Cap. 98-100.
1634 Zu den in der /Ethelwoldsvita beschriebenen Karrierewegen reformorientierter Akteure, die
allerdings nicht in einen direkten Bezug zur dortigen Baumvision gestellt werden, vgl. den
Abschnitt III.3.1.1.1. in der vorliegenden Arbeit.
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verwurzelt sind, dass sie neue Triebe hervorbringen. Aus dem Verlust entsteht
dem Konvent also langfristig kein Nachteil. Auch diese Sprösslinge sind Teil der
von Gilbert präsentierten Auslegung. So benennt er nach einem kurzen Einschub
zu einem Besuch Herluins in England ebenjene anderen großen Bäume, die in Le
Bec emporgewachsen seien: allen voran Anselm, zunächst Nachfolger Herluins
im Abbatiat von Le Bec, dann derjenige Lanfrancs im Archiepiskopat von
Canterbury, ferner die Abte Wilhelm von Cormeilles und Heinrich von Battle
Abbey sowie schließlich die aufeinanderfolgenden Bischöfe von Rochester, Ar-
nost und Gundulf.1633 Noch plastischer als in dem Traumgesicht in der
/Ethelwoldsvita wird bei Gilbert Crispin also das soziale Umfeld profiliert,
welches aus der eruditio der im Zentrum stehenden Leitfigur erwächst und
dementsprechend ebenfalls Karriere in der anglo-normannischen Kirche
macht.1634
Gerade diese Plastizität weist aber neben Parallelen auch auf Unterschiede
zwischen den Baumvisionen hin. Daher soll die Erzählung um den umge-
pflanzten Baum - analog zu ihrem Pendant aus der Einleitung - im Folgenden als
Rahmen dienen, wenn von den Ergebnissen der Arbeit ausgehend einige über-
geordnete Folgerungen und weiterführende Perspektiven für die Mediävistik
formuliert werden. Denn einerseits können so die Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede zwischen den alfredianischen und den ,benediktinischen' Reformen
näher konturiert und der Blick auf das bearbeitete Themenfeld geschärft werden.
Andererseits sollen die anhand der Fallbeispiele erarbeiteten Befunde für wei-
tergehende Fragestellungen anknüpfungsfähig gemacht werden, die über das
spätangelsächsische England hinausweisen. Anstelle einer herkömmlichen Zu-
sammenfassung wird die Arbeit daher durch sechs Plädoyers beschlossen, die
im Rekurs auf einzelne Aspekte der vorstehenden Untersuchung weiterführende
Ideen und (Hypo-)Thesen entwerfen, mithin weniger rekapitulierend als viel-
mehr prospektiv angelegt sind.
1633 Arbor fructibus optima fuit uenerabilis Anselmus ecclesie Augustensis clericus, qui illum doctorem
maximum ad ordinem monachorum subsecutus ad prioratum quoque eiusdem cenobii Beccensis post eum
accessit, et defuncto beate memorie supradicto Herluino abbati successit; ac demum post ipsum Lan-
francum archiepiscopus Cantuariensis extitit. [...] Arbor fructuum iocunditate plurimum acceptabilis
fuit ecclesie Cormeliensis abbas Willemus, prime nutritus et eruditus. Arbor alta atque fructuosa extitit
Henricus Cantuariensis ecclesie decanus, qui postmodum abbas fuit de Bello, uir ecclesiasticis omnibus
disciplinis optime instructus. Arbores bonorum operum fertilitate multum grauide in domo Domini
extiterunt uenerabilis Hernostus ecclesie Rofensis episcopus, et qui ei ad idem officium ibidem successit,
uir morum sanctitate admodum reuerendus, Gundulfus episcopus. Gilbert Crsipin, Vita Herluini,
Cap. 98-100.
1634 Zu den in der /Ethelwoldsvita beschriebenen Karrierewegen reformorientierter Akteure, die
allerdings nicht in einen direkten Bezug zur dortigen Baumvision gestellt werden, vgl. den
Abschnitt III.3.1.1.1. in der vorliegenden Arbeit.