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Bruhn, Stephan; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0503

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502

IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"

Beispiel und seine Lehre nährte. Dieser war vom genannten König
durch seinen Abt, dem er wie Gott selbst gehorchte, dazu aufgefordert
worden, über das Meer zu ziehen, um den Engländern die Grund-
ordnung der heiligen Religion zu vermitteln. Und nachdem ihm dies
vom Abt mit Unwillen befohlen worden war, gehorchte er mit großem
Unwillen, aber ungebrochener Folgsamkeit. Wie groß dessen Frucht
dort [i.e. in England] danach gewesen ist, davon zeugt allgemein
überall der Zustand der kirchlichen Ordnung: den Mönchsstand, der
vollständig zu laikaler Zügellosigkeit herabgesunken war, stellte er der
Zucht der besten Klöster entsprechend wieder her; die Kleriker wur-
den unter der kanonischen Regel gebändigt; das Volk wurde, nachdem
die Eitelkeit der barbarischen Riten untersagt worden war, zur rechten
Art des Glaubens und Lebens erzogen/'1632
Die programmatische Nähe zum eingangs vorgestellten Traumgesicht Dunstans
um /Ethelwold von Winchester tritt deutlich hervor: Auch hier wird einem re-
formorientierten Abt die Zukunft eines Schülers geoffenbart, dem eine führende
Rolle im Religiosentum vorherbestimmt ist; auch hier geht es um eine Imple-
mentierung der eigenen Werteorientierung in einem breiter zu fassenden Reso-
nanzraum, mithin um Reformen; auch hier wird die Baummetapher den eigenen
Aussageinteressen beziehungsweise dem leitgebenden Kontext entsprechend
angepasst; und auch hier bildet die Verhandlung monastischer Leitvorstellun-
gen ein zentrales Element der Erzählung: Zwar impliziert Lanfrancs Weggang
aus Le Bec zunächst einen Bruch mit dem Gebot der stabilitas loci. Dieser Verstoß
erfolgt aber nicht aufgrund persönlicher Interessen oder gar der Intervention des
Herrschers. Vielmehr wird er als Akt des Gehorsams gegenüber dem Abt in-
terpretiert, dem die Erhebung wiederum über die Vision zuvor als heilsrele-
vantes Geschehen und gottgewollt erwiesen worden ist. Die Statuserhöhung
und die Übernahme weltkirchlicher Funktionen werden also mit den Anforde-
rungen der klösterlichen Lebensweise harmonisiert.
Neben der letztgültigen Legitimierung des Geschehens über den göttlichen
Willen, als dessen Sachwalter der Abt an dieser Stelle fungiert, flicht Gilbert einen
weiteren Punkt in seine Argumentation mit ein, über den die Vision schließlich -
analog zum Traumgesicht Dunstans - eine soziale Dimension erhält. Denn die
Lehren Lanfrancs tragen nicht nur in der Fremde Früchte; vielmehr werden sie
auch vor Ort bewahrt, da sie in der Gemeinschaft von Le Bec buchstäblich so tief

1632 Virgultum abbatis erat Beccensis ecclesia, cuius arbor maxima, Ule doctor, non solum eam uerum alias
omnes per patriam suo exemplo et doctrina sustentabat ecclesias. Qui ob religionis sacre institutionem
tradendam Anglis a predicto rege ad transmarina migrare per abbatem suum, cui tanquam Deo ipsi
parebat, postulatus, multum inuitus salua obedientia atque ab inuito abbate iussus paruit. Cuius quantus
inibi postea extiterit fructus, latissime attestur innouatus usquequaque institutionis ecclesiastice Status.
Coenobialis ordo, qui omnino ad laicalem prolapsus fuerat dissolutionem, ad probatissimorum reformatur
disciplinam monasteriorum; clerici sub canonicali coercentur regula; populus rituum barbarorum in-
terdicta uanitate, ad rectam credendi atque uiuendi formam eruditur. Gilbert Crsipin, Vita Herluini,
Cap. 82-83.
 
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