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Bruhn, Stephan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0048

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1.4. Methodischer Exkurs II: Reformer - (k)eine Kategorie der Mediävistik?

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der eigenen Gegenwart entsprechen und somit als heilig gelten zu können. Erst
durch die Ausweitung des Korpus auch auf die .historischen' Viten wird also die
ganze Tiefenschärfe des Gruppendiskurses greifbar. Damit fordert die Erweite-
rung der Quellengrundlage auch dazu auf, den Beitrag der Vitenkultur zur So-
zialgeschichte der Reformer unter den hier vorgeschlagenen kulturwissen-
schaftlichen Vorzeichen als Ganzes neu zu eruieren, da die in den Texten ver-
handelten Sozialstrukturen nicht allein als Abbildung und Affirmation außer-
textlicher Realitäten gewertet werden können, sondern auch hinsichtlich ihrer
diskursiven Eigenlogiken zu analysieren sind."
Es sprechen also gleich mehrere heuristische wie forschungsgeschichtliche
Aspekte für eine Fokussierung der vorliegenden Analyse auf das oben umrissene
Vitenkorpus. Mit der Bestimmung des diskursanalytischen Vorgehens und der
Herleitung des Untersuchungskorpus sind die zentralen Eckpfeiler der Unter-
suchung grundgelegt. Zugleich sind im Anschluss an diese Ausgangspunkte
noch zwei weitere Aspekte der Untersuchungskonfiguration näher zu umreißen:
das der Studie zugrundeliegende Reformverständnis, welches trotz seiner zen-
tralen forschungsgeschichtlichen Bedeutung den Ausführungen zu Diskurs und
Korpus nachgestellt worden ist, da es sich wesentlich aus deren methodischer
Bestimmung speist, sowie die Basisbegriffe der Werte und Normen, mittels
deren die einzelnen Aussagen, ob deren sich der Gruppendiskurs formiert, be-
zeichnet werden sollen.
1.4. Methodischer Exkurs II: Reformer - (k)eine Kategorie
der Mediävistik?
Vor dem Hintergrund des vorgestellten, breiten diskurstheoretischen Rahmens
gilt es, noch einen weiteren Punkt ausgehend von der Baum-Vision in der Vita
Sancti TEthdiooldi zu erörtern. Dieser betrifft die bereits mehrfach angesprochene
Divergenz zwischen der Sprache Wulfstans, die er im Kontext dieses Gruppen-
entwurfes gebraucht, und den modernen analytischen Begrifflichkeiten, mit
denen in der Forschung diese Vergemeinschaftung gemeinhin bezeichnet wird.

99 In diesem Zusammenhang ist v. a. die Bevorzugung vermeintlich .objektiverer' Quellengruppen
wie etwa der Urkunden in der sozialhistorischen Forschung, wie sie für die ,benediktinischen'
Reformen im spätangelsächsischen England immer noch kennzeichnend ist, auf Basis dieser
Befunde kritisch zu hinterfragen. VgL dazu Cownie, Patronage, S. 11-30, sowie die Studien zur
Gemeinschaft von Worcester von Barrow, Community, und Sawyer, Charters. Wie eminent
wichtig die Berücksichtigung von vermeintlich wenig aussagekräftigen Quellen wie etwa Pre-
digten für die Untersuchung politischer Ideen - insbes. hinsichtlich ihrer Breitenwirkung und
ihrer sozialen Verankerung - ist, haben etwa Bernhard Jussen oder Quentin Skinner aufzeigen
können. Vgl. hierzu auch die Einschätzung bei Rexroth, Rituale, S. 88-90. Eine ganz ähnliche
sozialgeschichtliche Perspektiverweiterung vollzieht ebenfalls Kuchenbuch, Porcus, S. 199, wenn
er die von ihm untersuchten grundherrschaftlichen Verzeichnisse nicht mehr hinsichtlich der
realen Beziehungen, die in ihnen greifbar werden, auswertet, sondern sie stattdessen als
Zeugnisse für „social Orientations and intentions" liest.
 
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