46
I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
„Mikrodiachronie''94 verzichtet, um die Tragweite des Vergleiches nicht zu
Überspannen und somit das Erklärungspotential der Diskursanalyse zu kon-
kretisieren.
Diese Vergleichsperspektive bedingt des Weiteren, dass der Begriff ,Vita' in
der vorliegenden Untersuchung nicht einseitig mit, Hagiographie' gleichzuset-
zen ist. Denn mit Assers De rebus gestis TElfredi steht im Kontext der alfrediani-
schen Reformen ein Text im Fokus, der in der Forschung überwiegend nicht der
Hagiographie, sondern der karolingisch inspirierten Herrscherbiographie zu-
geordnet wird, wenngleich Momente hagiographischen Erzählens gerade im
Bereich der Verhandlung von Leid und Entbehrung eindeutig greifbar sind.95 Die
Untersuchung trägt den umrissenen Forschungsrichtungen zu funktional-
praxeologischen Zugängen zur Überlieferung dementsprechend Rechnung, da
nicht nur die Gattungstypologie bezüglich der Alfredsvita Assers aufgebrochen
wird, sondern umgekehrt auch die Heiligenviten aus dem Kontext der ,bene-
diktinischen' Reformen hinsichtlich der in ihnen fassbaren Sinnstiftungsme-
chanismen nicht auf die Evokation des Heiligen im Rekurs auf bestehende Er-
zähltraditionen reduziert werden.
Schließlich weist die Fokussierung der vorliegenden Untersuchung auf die
Vitenproduktion nicht nur ein restriktives Moment auf, sondern stellt zugleich
eine Erweiterung der Quellenbasis dar, indem nicht nur die zeitgeschichtlich
ausgerichteten Werke, sondern auch die inhaltlich nicht auf die unmittelbare
Vergangenheit bezogenen Viten zur sozialhistorischen Erschließung der be-
leuchteten Reformkontexte herangezogen werden. Denn letztere sind in sozial-
geschichtlich motivierten Studien bisher nicht eingehender untersucht worden,
da das vordergründige Erkenntnisinteresse die positivistische Rekonstruktion
real bestehender Beziehungsgeflechte im Sinne,harter' Sozialstrukturen bildete,
in denen die Reformbewegung zu verorten war und die durch diese wiederum
selbst geprägt wurden.96 Die Analyse der stärker historisch orientierten Texte
beschränkte sich auf deren kontextuelle Verortung innerhalb dieser Strukturen,
zu deren konkreter Ermittlung sie auf der inhaltlichen Ebene aufgrund ihrer
zeitlichen Ausrichtung wenig beizutragen vermochten.97 Demgegenüber gilt es
aus der hier vorgestellten diskursgeschichtlichen Perspektive festzuhalten, dass
sich die Wirkmächtigkeit des reformerischen Gruppendiskurses aber vor allem
in ebendiesen Werken manifestiert, da die Vergangenheit stets im Sinne der
eigenen sozialen Idealvorstellungen adaptiert wird.98 Ein Bischof des ausge-
henden 7. beziehungsweise beginnenden 8. Jahrhunderts war dementsprechend
gar nicht anders darstellbar denn als Vorläufer der zeitgenössischen Reformer,
wie auch ein den Märtyrertod erleidender Herrscher des 9. Jahrhunderts sich zu
Lebzeiten als Philosophenkönig erweisen musste, um den Königsvorstellungen
94 Steinmetz, Begriffsgeschichte, S. 183.
95 Zu den Werkcharakteristika vgl. ausführlich den Abschnitt II. 1. sowie die Abschnitte II.2.3. und
II.2.5. in der vorliegenden Arbeit.
96 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.l. in der vorliegenden Arbeit.
97 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.l. in der vorliegenden Arbeit.
98 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.3.1.1.3. in der vorliegenden Arbeit.
I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
„Mikrodiachronie''94 verzichtet, um die Tragweite des Vergleiches nicht zu
Überspannen und somit das Erklärungspotential der Diskursanalyse zu kon-
kretisieren.
Diese Vergleichsperspektive bedingt des Weiteren, dass der Begriff ,Vita' in
der vorliegenden Untersuchung nicht einseitig mit, Hagiographie' gleichzuset-
zen ist. Denn mit Assers De rebus gestis TElfredi steht im Kontext der alfrediani-
schen Reformen ein Text im Fokus, der in der Forschung überwiegend nicht der
Hagiographie, sondern der karolingisch inspirierten Herrscherbiographie zu-
geordnet wird, wenngleich Momente hagiographischen Erzählens gerade im
Bereich der Verhandlung von Leid und Entbehrung eindeutig greifbar sind.95 Die
Untersuchung trägt den umrissenen Forschungsrichtungen zu funktional-
praxeologischen Zugängen zur Überlieferung dementsprechend Rechnung, da
nicht nur die Gattungstypologie bezüglich der Alfredsvita Assers aufgebrochen
wird, sondern umgekehrt auch die Heiligenviten aus dem Kontext der ,bene-
diktinischen' Reformen hinsichtlich der in ihnen fassbaren Sinnstiftungsme-
chanismen nicht auf die Evokation des Heiligen im Rekurs auf bestehende Er-
zähltraditionen reduziert werden.
Schließlich weist die Fokussierung der vorliegenden Untersuchung auf die
Vitenproduktion nicht nur ein restriktives Moment auf, sondern stellt zugleich
eine Erweiterung der Quellenbasis dar, indem nicht nur die zeitgeschichtlich
ausgerichteten Werke, sondern auch die inhaltlich nicht auf die unmittelbare
Vergangenheit bezogenen Viten zur sozialhistorischen Erschließung der be-
leuchteten Reformkontexte herangezogen werden. Denn letztere sind in sozial-
geschichtlich motivierten Studien bisher nicht eingehender untersucht worden,
da das vordergründige Erkenntnisinteresse die positivistische Rekonstruktion
real bestehender Beziehungsgeflechte im Sinne,harter' Sozialstrukturen bildete,
in denen die Reformbewegung zu verorten war und die durch diese wiederum
selbst geprägt wurden.96 Die Analyse der stärker historisch orientierten Texte
beschränkte sich auf deren kontextuelle Verortung innerhalb dieser Strukturen,
zu deren konkreter Ermittlung sie auf der inhaltlichen Ebene aufgrund ihrer
zeitlichen Ausrichtung wenig beizutragen vermochten.97 Demgegenüber gilt es
aus der hier vorgestellten diskursgeschichtlichen Perspektive festzuhalten, dass
sich die Wirkmächtigkeit des reformerischen Gruppendiskurses aber vor allem
in ebendiesen Werken manifestiert, da die Vergangenheit stets im Sinne der
eigenen sozialen Idealvorstellungen adaptiert wird.98 Ein Bischof des ausge-
henden 7. beziehungsweise beginnenden 8. Jahrhunderts war dementsprechend
gar nicht anders darstellbar denn als Vorläufer der zeitgenössischen Reformer,
wie auch ein den Märtyrertod erleidender Herrscher des 9. Jahrhunderts sich zu
Lebzeiten als Philosophenkönig erweisen musste, um den Königsvorstellungen
94 Steinmetz, Begriffsgeschichte, S. 183.
95 Zu den Werkcharakteristika vgl. ausführlich den Abschnitt II. 1. sowie die Abschnitte II.2.3. und
II.2.5. in der vorliegenden Arbeit.
96 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.l. in der vorliegenden Arbeit.
97 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.l. in der vorliegenden Arbeit.
98 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.3.1.1.3. in der vorliegenden Arbeit.