1.3. Methodischer Exkurs I: Warum Viten? Korpusfragen
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soll. Hagiographische Texte bieten sich für einen solchen Zugriff besonders an,
da sie sich einerseits durch ihre inhaltlichen wie konzeptionellen Rückbezüge auf
andere Vitentexte oder religiös-normatives Schriftgut in bestehende Erzähltra-
ditionen einordnen, die eine grundsätzliche Vergleichbarkeit innerhalb des
Korpus nicht zuletzt aufgrund intertextueller Bezüge zwischen den untersuch-
ten Viten selbst gewährleistet. Andererseits - und dieser Punkt ist für die Aus-
wertung fast ebenso entscheidend - lassen sie sich nicht auf diese Erzählkon-
ventionen reduzieren, sondern stellen jeweils individuelle narrative Konstruk-
tionsleistungen dar, die auch auf andere Modi der Sinnstiftung rekurrieren, um
ihren Aussagen Geltung zu verleihen.90 Hagiographische Erzähltraditionen
können neben anderen narrativen Referenzbeständen dementsprechend als
,Werkzeugkasten' verstanden werden, aus deren Vielfalt an Topoi sich die Au-
toren bei der Ausgestaltung ihrer Texte bedienten, um bestimmte Bedeutungs-
zusammenhänge zu evozieren, wobei die bestehenden Wissensbestände durch
Selektion und Verknüpfung funktionalisiert und somit adaptiert wurden.91 Vita
ist bei aller strukturellen Ähnlichkeit also nicht gleich Vita.92
Zudem wird einer allzu reduktionistischen Sicht durch die diachrone Per-
spektive vorgebeugt, indem bewusst zwei Reformkontexte hinsichtlich ihrer
diskursiven Gruppengenese untersucht werden, deren Rahmenbedingungen
und Ausprägung sich trotz gemeinsamer Anliegen in entscheidenden Merk-
malen unterscheiden. Nicht zuletzt deshalb ist die Frage nach Verbindungen und
Brüchen zwischen diesen Initiativen in der Forschung umstritten.93 Vor diesem
Hintergrund versteht sich die vorliegende Studie auch als Beitrag zur For-
schungsdiskussion um Kontinuität und Wandel im Kontext spätangelsächsi-
scher Reforminitiativen. Die Untersuchung der jeweiligen Gruppendiskurse
wird also nicht durch die synchrone Beleuchtung des Gegensätzlichen, etwa im
Sinne eines Anti-Reformer-Diskurses, sondern durch den diachronen Vergleich
zweier in der Forschung durchaus konträr definierter Kontexte methodisch ab-
gesichert. Dabei wird bewusst auf eine Langzeitperspektive, die etwa auch die
Reformdiskurse im ausgehenden 7. und beginnenden 8. Jahrhundert oder In-
itiativen der frühen Normannenzeit berücksichtigen könnte, zugunsten einer
90 Dieses Wechselspiel von Fort- und Umschreiben, von Tradition und Innovation ist in der jün-
geren Hagiographieforschung v. a. unter dem Label der „reecriture" anhand einzelner Heili-
gendossiers untersucht worden. Vgl. die Überblicke bei Bihrer, Heiligkeiten, S. 20-22, sowie
Corradini/Diesenberger, Integritätsrigoristen, S. 12 f., mit der jeweils genannten Literatur. Einen
ähnlichen Zugang verfolgt mit Blick auf die karolingische Herrscherbiographie auch Hageneier,
Topik.
91 Vgl. dazu Hageneier, Topik, sowie Landwehr, Diskursgeschichte, S. 78.
92 Zu einer ganz ähnlichen Feststellung kommt auch Rüdiger, Charlemagne, S. 29, wenngleich dort
ein gänzlich anderer Kontext - die politische Sprache laikaler Eliten - untersucht wird: „But if we
accept the ,episodical' style as a feature of lay elite political narration, we both remove a number
of obstacles to our understanding of individual texts and sharpen our awareness of the diffe-
rences between coeval modes of discourse: John of Salisbury and Walter Map both wrote de nugis
curialium (,on Courtiers' Trifies') but did so in rather different ways."
93 Vgl. dazu auch die Abschnitte II.l. sowie III.l. in der vorliegenden Arbeit.
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soll. Hagiographische Texte bieten sich für einen solchen Zugriff besonders an,
da sie sich einerseits durch ihre inhaltlichen wie konzeptionellen Rückbezüge auf
andere Vitentexte oder religiös-normatives Schriftgut in bestehende Erzähltra-
ditionen einordnen, die eine grundsätzliche Vergleichbarkeit innerhalb des
Korpus nicht zuletzt aufgrund intertextueller Bezüge zwischen den untersuch-
ten Viten selbst gewährleistet. Andererseits - und dieser Punkt ist für die Aus-
wertung fast ebenso entscheidend - lassen sie sich nicht auf diese Erzählkon-
ventionen reduzieren, sondern stellen jeweils individuelle narrative Konstruk-
tionsleistungen dar, die auch auf andere Modi der Sinnstiftung rekurrieren, um
ihren Aussagen Geltung zu verleihen.90 Hagiographische Erzähltraditionen
können neben anderen narrativen Referenzbeständen dementsprechend als
,Werkzeugkasten' verstanden werden, aus deren Vielfalt an Topoi sich die Au-
toren bei der Ausgestaltung ihrer Texte bedienten, um bestimmte Bedeutungs-
zusammenhänge zu evozieren, wobei die bestehenden Wissensbestände durch
Selektion und Verknüpfung funktionalisiert und somit adaptiert wurden.91 Vita
ist bei aller strukturellen Ähnlichkeit also nicht gleich Vita.92
Zudem wird einer allzu reduktionistischen Sicht durch die diachrone Per-
spektive vorgebeugt, indem bewusst zwei Reformkontexte hinsichtlich ihrer
diskursiven Gruppengenese untersucht werden, deren Rahmenbedingungen
und Ausprägung sich trotz gemeinsamer Anliegen in entscheidenden Merk-
malen unterscheiden. Nicht zuletzt deshalb ist die Frage nach Verbindungen und
Brüchen zwischen diesen Initiativen in der Forschung umstritten.93 Vor diesem
Hintergrund versteht sich die vorliegende Studie auch als Beitrag zur For-
schungsdiskussion um Kontinuität und Wandel im Kontext spätangelsächsi-
scher Reforminitiativen. Die Untersuchung der jeweiligen Gruppendiskurse
wird also nicht durch die synchrone Beleuchtung des Gegensätzlichen, etwa im
Sinne eines Anti-Reformer-Diskurses, sondern durch den diachronen Vergleich
zweier in der Forschung durchaus konträr definierter Kontexte methodisch ab-
gesichert. Dabei wird bewusst auf eine Langzeitperspektive, die etwa auch die
Reformdiskurse im ausgehenden 7. und beginnenden 8. Jahrhundert oder In-
itiativen der frühen Normannenzeit berücksichtigen könnte, zugunsten einer
90 Dieses Wechselspiel von Fort- und Umschreiben, von Tradition und Innovation ist in der jün-
geren Hagiographieforschung v. a. unter dem Label der „reecriture" anhand einzelner Heili-
gendossiers untersucht worden. Vgl. die Überblicke bei Bihrer, Heiligkeiten, S. 20-22, sowie
Corradini/Diesenberger, Integritätsrigoristen, S. 12 f., mit der jeweils genannten Literatur. Einen
ähnlichen Zugang verfolgt mit Blick auf die karolingische Herrscherbiographie auch Hageneier,
Topik.
91 Vgl. dazu Hageneier, Topik, sowie Landwehr, Diskursgeschichte, S. 78.
92 Zu einer ganz ähnlichen Feststellung kommt auch Rüdiger, Charlemagne, S. 29, wenngleich dort
ein gänzlich anderer Kontext - die politische Sprache laikaler Eliten - untersucht wird: „But if we
accept the ,episodical' style as a feature of lay elite political narration, we both remove a number
of obstacles to our understanding of individual texts and sharpen our awareness of the diffe-
rences between coeval modes of discourse: John of Salisbury and Walter Map both wrote de nugis
curialium (,on Courtiers' Trifies') but did so in rather different ways."
93 Vgl. dazu auch die Abschnitte II.l. sowie III.l. in der vorliegenden Arbeit.