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Bruhn, Stephan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0057

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I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll

sion und Exklusion von Individuen je nach Kontext flexibel gehandhabt werden
können. Gerade diese kommunikationsbasierte Dynamik und Flexibilität der
Gruppenformierung ermöglicht es, die Teilidentität eines Individuums als Re-
former mit anderen sozialen Rollen, die von diesem wahrgenommen werden, zu
harmonisieren. Daher kann eine Untersuchung von Reformgruppen nicht a
priori auf einzelne Stände oder Akteursgruppen beschränkt bleiben, die qua
ihrer Verhaltensethik oder,Professionsnormen' eine vermeintlich große Nähe zu
den reformerischen Idealen aufweisen. Sie hat vielmehr alle sozialen Beziehun-
gen und Wertekonfigurationen in den Blick zu nehmen, die in den Texten ver-
handelt werden. Denn manchmal lassen sich auch dort Reformer finden, wo man
sie zunächst nicht erwarten würde.
Dass es sich bei der so definierten Sondergruppe nicht um eine For-
schungsfiktion handelt, die sich durch einen ungebrochenen Gebrauch über-
kommener Termini ergibt, wird zwar erst aus der Gesamtsicht auf den hier
untersuchten Diskurs voll ersichtlich, sie lässt sich in Ansätzen aber auch in der
oben beschriebenen Baum-Vision Wulfstans greifen. Denn der Autor entwirft
hier keinesfalls eine ideelle Ordnung für das Mönchtum an sich, sondern fo-
kussiert seine Darstellung vielmehr auf eben jene Mönche, die sich dem auf der
eruditio fußenden ducatus /Ethelwolds anvertrauen. Es geht mithin um eine be-
sondere Eignung des Bischofs von Winchester zur Führung der mit ihm ver-
bundenen Mönche - und die Anerkennung eben dieses Führungsprinzips ist es,
welche die Erlösung der Gemeinschaft bedingt. Würde Wulfstan hier lediglich
auf das englische Mönchtum an sich abheben, dann bedürfte es dieser Spezifi-
kation nicht, da für die Standeszugehörigkeit auch im vorliegenden Kontext die
Profess ausschlaggebend ist, nicht die Anerkennung einer konventsübergrei-
fenden Führungsfigur. Vielmehr scheint die so definierte Bindung den Umstand
zu berücksichtigen, dass es gute wie schlechte Vertreter innerhalb des eigenen
Standes gibt - eine Vermutung, die bei einer Betrachtung der Vita als Gesamt-
werk insbesondere durch den zum Gegenbild /Ethelwolds stilisierten /Ethelstan
erhärtet wird.122
Die hier beschriebene positive Inklusion schließt also implizit eine negativ
definierte Exklusion all derjenigen mit ein, die sich der Leitung /Ethewolds nicht
anvertrauen. Somit wird an dieser Stelle eine Sondergruppe definiert, die man
allein von diesem Kontext ausgehend auch als rechtschaffenes Mönchtum be-
zeichnen könnte. Da aber in der Gesamtperspektive des Diskurses auch andere
Akteursgruppen jenseits der durch Profess definierten Mönche berücksichtigt
werden, bedarf es der analytischen Kategorie der Reformer, um diese, etablierte'
Standes- oder Gruppengrenzen überbrückende Stoßrichtung voll zu erfassen.
Mit ,gut' und, schlecht' sind zudem die zentralen Kategorien angesprochen, über
die Gruppenzugehörigkeit in diesem Diskurs verhandelt wird und die daher als
fundierende Untersuchungselemente abschließend noch näher zu umreißen
sind: Werte und Normen.

122 Vgl. hierzu ausführlich den Abschnitt III.3.2.1. in der vorliegenden Arbeit.
 
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