IV.2. Kommunizieren über Werte, Kommunizieren mit Werten
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Kernbereiche, wie sie insbesondere die Tugendforschung kennzeichnet, vorzu-
beugen. Dennoch treten auch in dieser egalitären Perspektive einige Verhal-
tensideale aufgrund ihrer spezifischen Konfiguration besonders hervor: Das
Ideal der Keuschheit wird etwa von den Autoren nicht in einem absoluten Sinne
definiert, sondern vielmehr an die jeweilige Lebensrealität des Individuums
angepasst. Dieses graduelle Verständnis geht mit einer übergreifenden Ver-
weisfunktion sexueller Enthaltsamkeit einher, gilt diese doch als Ausdruck einer
allgemeinen Affektkontrolle und somit als Spiegel der inneren moralischen
Verfasstheit an sich. Gerade in dieser spezifischen Konfiguration scheint der
eigentliche Geltungsgrund der Keuschheit als eines allgemeingültigen und vor
allem sozialen Verhaltensideals zu liegen, welches jenseits der religiös-kultischen
Signifikanz auch der Stabilisierung von Gemeinschaften dient. Das Ideal der
Agonalität weist einen ebenso überwölbenden Charakter auf, der sich allerdings
auf eine andere Weise realisiert. Denn im Sinne einer positiv konnotierten
Selbstbehauptung verfügt dieser Verhaltenswert über keinen eigenen Gel-
tungsbereich, sondern verstärkt vielmehr als ,Metawert' die Geltungskraft an-
derer Idealvorstellungen, indem er deren wünschenswerten Charakter weiter
hervorhebt. Damit ist Agonalität im vorliegenden Kontext durch dieselben
Muster der Geltungserzeugung charakterisiert, wie sie von Katharina Behrens
für das Ideal der Schamhaftigkeit im ricardischen England herausgearbeitet
worden sind.1693 Solchen typologischen Unterschieden bezüglich der Konfigu-
ration von Werten gilt es auf Basis weiterer Detailstudien nachzugehen, um
langfristig zu einem systematischeren Verständnis vormodemer Verhaltens-
ordnungen zu gelangen.
Darüber hinaus ließe sich das von den Bestimmungen bei Hans Joas aus-
gehende, dezidiert sozialgeschichtlich orientierte Werteverständnis der vorlie-
genden Arbeit über einen Einbezug konzeptionell verwandter beziehungsweise
thematisch nahestehender Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft definito-
risch weiter schärfen. Insbesondere die historische Emotionsforschung oder die
historische Vertrauensforschung böten sich für einen solchen Methodentransfer
an, da sie sich ebenfalls intensiv mit der sozialen Signifikanz wie auch Prägung
von Verhaltensidealen und Umgangsformen befassen.1694 Methodische Ange-
bote aus dem Bereich der Emotionsgeschichte könnten außerdem zu einer ana-
lytischen Durchdringung des affirmativen Charakters von Werten beitragen, der
im Rahmen der vorliegenden Studie nicht eigens reflektiert worden ist.1695 Die
1693 Vgl. Behrens, Scham, S. 317.
1694 Vgl. zur historischen Emotionsforschung allgemein Rosenwein/Christiani, History, sowie kritisch
Schnell, Gefühle, speziell zur Mediävistik Ders., Emotionsforschung, jeweils mit weiterführen-
der Literatur. Zur historischen Vertrauensforschung Ziegler, Trauen, bes. S. 9-18, Lepsius/Reich-
lin, Fides, sowie Hirschbiegel, Nahbeziehungen, bes. S. 48-78.
1695 Die Methoden, Ansätze und Ergebnisse der historischen Emotionsforschung sind bisher nur
punktuell in die Wertegeschichte eigeflossen, so etwa bei Behrens, Scham, bes. S. 26-28 sowie
S. 315 f. Der Konnex zwischen historischer Emotions- und Vertrauensforschung gestaltet sich
demgegenüber deutlich enger, ist die letztgenannte doch maßgeblich aus der erstgenannten
erwachsen. Vgl. Ziegler, Trauen, S. 10 sowie S. 21-24.
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Kernbereiche, wie sie insbesondere die Tugendforschung kennzeichnet, vorzu-
beugen. Dennoch treten auch in dieser egalitären Perspektive einige Verhal-
tensideale aufgrund ihrer spezifischen Konfiguration besonders hervor: Das
Ideal der Keuschheit wird etwa von den Autoren nicht in einem absoluten Sinne
definiert, sondern vielmehr an die jeweilige Lebensrealität des Individuums
angepasst. Dieses graduelle Verständnis geht mit einer übergreifenden Ver-
weisfunktion sexueller Enthaltsamkeit einher, gilt diese doch als Ausdruck einer
allgemeinen Affektkontrolle und somit als Spiegel der inneren moralischen
Verfasstheit an sich. Gerade in dieser spezifischen Konfiguration scheint der
eigentliche Geltungsgrund der Keuschheit als eines allgemeingültigen und vor
allem sozialen Verhaltensideals zu liegen, welches jenseits der religiös-kultischen
Signifikanz auch der Stabilisierung von Gemeinschaften dient. Das Ideal der
Agonalität weist einen ebenso überwölbenden Charakter auf, der sich allerdings
auf eine andere Weise realisiert. Denn im Sinne einer positiv konnotierten
Selbstbehauptung verfügt dieser Verhaltenswert über keinen eigenen Gel-
tungsbereich, sondern verstärkt vielmehr als ,Metawert' die Geltungskraft an-
derer Idealvorstellungen, indem er deren wünschenswerten Charakter weiter
hervorhebt. Damit ist Agonalität im vorliegenden Kontext durch dieselben
Muster der Geltungserzeugung charakterisiert, wie sie von Katharina Behrens
für das Ideal der Schamhaftigkeit im ricardischen England herausgearbeitet
worden sind.1693 Solchen typologischen Unterschieden bezüglich der Konfigu-
ration von Werten gilt es auf Basis weiterer Detailstudien nachzugehen, um
langfristig zu einem systematischeren Verständnis vormodemer Verhaltens-
ordnungen zu gelangen.
Darüber hinaus ließe sich das von den Bestimmungen bei Hans Joas aus-
gehende, dezidiert sozialgeschichtlich orientierte Werteverständnis der vorlie-
genden Arbeit über einen Einbezug konzeptionell verwandter beziehungsweise
thematisch nahestehender Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft definito-
risch weiter schärfen. Insbesondere die historische Emotionsforschung oder die
historische Vertrauensforschung böten sich für einen solchen Methodentransfer
an, da sie sich ebenfalls intensiv mit der sozialen Signifikanz wie auch Prägung
von Verhaltensidealen und Umgangsformen befassen.1694 Methodische Ange-
bote aus dem Bereich der Emotionsgeschichte könnten außerdem zu einer ana-
lytischen Durchdringung des affirmativen Charakters von Werten beitragen, der
im Rahmen der vorliegenden Studie nicht eigens reflektiert worden ist.1695 Die
1693 Vgl. Behrens, Scham, S. 317.
1694 Vgl. zur historischen Emotionsforschung allgemein Rosenwein/Christiani, History, sowie kritisch
Schnell, Gefühle, speziell zur Mediävistik Ders., Emotionsforschung, jeweils mit weiterführen-
der Literatur. Zur historischen Vertrauensforschung Ziegler, Trauen, bes. S. 9-18, Lepsius/Reich-
lin, Fides, sowie Hirschbiegel, Nahbeziehungen, bes. S. 48-78.
1695 Die Methoden, Ansätze und Ergebnisse der historischen Emotionsforschung sind bisher nur
punktuell in die Wertegeschichte eigeflossen, so etwa bei Behrens, Scham, bes. S. 26-28 sowie
S. 315 f. Der Konnex zwischen historischer Emotions- und Vertrauensforschung gestaltet sich
demgegenüber deutlich enger, ist die letztgenannte doch maßgeblich aus der erstgenannten
erwachsen. Vgl. Ziegler, Trauen, S. 10 sowie S. 21-24.