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Bruhn, Stephan; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

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https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0529

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528

IV. „Ein verpflanzter Baum und seine Sprösslinge"

als spezifische „matrix"1732, welche die Ausbreitung einer auf antiken Idealen
aufbauenden Hofkultur entscheidend geprägt habe. Die Entstehung dieser
vermeintlich genuin laikalen Werteordnung wurde so in einem klerikalen Um-
feld in der Zeit vor der Kirchenreform verortet. Gleichwohl erweist sich der
,Investiturstreit' und die mit ihm einhergehende Ausdifferenzierung von Kirche
und Welt auch bei Jaeger als zentraler Rahmen für die Einordnung der Befunde,
da die Ausformulierung dieser Kultur wesentlich auf die politische Funktion der
Reichskirche im Herrscherdienst zurückgeführt wird.1733 Trotz ihrer Vermittlung
und Formierung an den Kathedralschulen bleibt diese Werteordnung für Jaeger
also im Wortsinn eine höfische.
Rüdiger Schnell hat diese Engführung zu Recht kritisiert und demgegenüber
an einer Fülle von Beispielen aus der Merowinger- und Karolingerzeit aufzeigen
können, dass der soziale Sinn entsprechender Verhaltensideale nicht auf die
politische Indienstnahme des ottonisch-salischen Hofklerus beschränkt gewesen
ist. Die Eigenschaft, sich andere gewogen zu machen, könne sich vielmehr in
einer jeden Vergemeinschaftungsform als erstrebenswert erweisen.1734 Unge-
achtet dieser bedeutsamen Modifikationen, die durch die Ergebnisse der vor-
liegenden Arbeit wie auch andere Studien gestützt werden, bilden allerdings
auch bei Schnell die seit dem Hochmittelalter einsetzenden Entwicklungen den
zentralen Referenzpunkt für die Untersuchung. Denn zum einen verweist
Schnell ebenfalls auf eine Intensivierung dieses Diskurses um 1100, die durch die
wachsende soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ein höheres Bil-
dungsniveau bedingt gewesen sei. Zum anderen hält er an der Chiffre „höfisch"
zur Erfassung dieser Ideale grundsätzlich fest.1735
So unverzichtbar und grundlegend die Beobachtungen Jaegers und Schnells
für das Verständnis von laikalen und klerikalen Wertevorstellungen auch sind,
gilt es zukünftig dennoch, deren sicherlich auch disziplinär bedingte teleolo-
gisch-rückblickende Sichtweise aufzugeben und verstärkt eigenständige Per-
spektiven für das Frühmittelalter zu formulieren. Die vorliegende Arbeit hat
hierzu einen ersten Beitrag geleistet, indem sie der Untersuchung ein offeneres
analytisches Vokabular zugrundegelegt hat, um dichotome Gegenüberstellun-
gen zu vermeiden: Statt von höfischem Verhalten wurde von Soziabilität ge-
sprochen, um der sozialen Vielgestaltigkeit der hiermit assoziierten Verhal-
tensformen Rechnung zu tragen; Phänomene der christlichen caritas und der
weltlichen largitas wurden aufgrund vielfacher Überschneidungen unter dem
Begriff der Freigiebigkeit gebündelt; Formen der Selbstbehauptung und des
Wettbewerbs wurden mit dem Terminus der Agonalität erfasst, um eine Eng-
führung auf ein vermeintlich archaisches Kriegerbewusstsein zu vermeiden.
Dabei bedarf die hier aufgeworfene Terminologie sicherlich der Ergänzung und

1732 Jaeger, Courtliness, S. 195.
1733 Vgl. hierzu Ders., Origins, S. 18-48, sowie in Reaktion auf die Kritik Schnells Ders., Courtliness,
S. 194-202.
1734 Vgl. zu früheren Belegen für ,höfisches' Verhalten Schnell, Kultur, S. 15-24, zur umfassenden
sozialen Dimension der affabilitas ebd., S. 31-42.
1735 Vgl. hierzu pointiert ebd., S. 44-47.
 
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