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Poulsen, Frederik
Der Orient und die frühgriechische Kunst: mit 197 Abbildungen — Leipzig, Berlin: Druck und Verlag von B.G. Teubner, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.52590#0096
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Sechstes Kapitel. Die kretischen Schilde

ihr Kopfschmuck ist rätselhaft.1) Während die Augen der Gestalten des Zeusschildes für
Einlagen ausgehöhlt sind, und während die „Rhea“ längliche, von mehreren Brauenlinien
begleitete Augen hat, werden die Brauenlinien bei der behelmten Sphinx des Schlangen-
schildes (Abb. 78) durch Grätenmuster ausgefüllt, eine typisch frühgriechische Umstilisierung,
die wir sowohl bei den Figuren der von mir veröffentlichten Mitra von Rhetymno2) als auch
auf dem Bronzebecken von Leontinoi3) wiederfinden. Und die bartlosen Krieger des Schildes
Atlas Taf. V, deren Helme ungefähr mit denjenigen der phönikischen Terrakottakrieger oben
Abb. 60—61 übereinstimmen4), haben fast runde Augen wie die in den folgenden Kapiteln
zu besprechenden Figuren der griechischen Volkskunst.
Auch der Inhalt der Darstellungen ist, wenigstens in einem Fall, griechisch. Mag auch
die Deutung Milanis auf Rhea zu den zweifelhaftesten gehören5), so sichern uns die Kureten
des bekanntesten Schildes Abb. 77, daß es Zeus ist, der in der Mitte wie ein babylonischer
Gott einen Stier zerreißt. Ziemlich vereinzelt stand bisher die Darstellung der Kureten in
der frühgriechischen Kunst da, denn erst in der hellenistischen Kunst erscheinen sie häu-
figer.6) Sie tragen aber die Pauken, die Strabo (X 466) erwähnt, und daran erkennen wir
sie, obwohl sie unbewaffnet sind. Die Flügel werden ihnen wohl als Göttern gegeben (vgl.
Hesiod. Fragm. 198, ed. Rzach), wenn es nicht einfach daher kommt, daß die assyrischen
Genien, deren treues Abbild sie sind, auch geflügelt waren. Damals, im IX. und VIII. Jahrh.,
spielten die Kureten offenbar eine gewaltige Rolle, teils als Gottheiten, teils als Priesterschaft
des Zeus, denn nach dem Vorbild der tanzenden und spielenden Kureten wurde wohl zu
dieser Zeit die Priesterschaft der ionischen Molpoi ausgebildet.7)
Trotz des überaus phönikischen Gepräges dieser Schilde, das so stark ist, daß wir
erst bei der Detailanalyse den griechischen Charakter entdecken, dürfen wir sie also doch
als kretisch bezeichnen. Daß Kreta bei der Herausbildung des orientalisierenden Stiles des
VIII. und VII. Jahrh. tatsächlich eine Rolle gespielt hat, bestätigt auch die Vasenmalerei, was
man anderwärts näher ausgeführt finden wird.8) Jedoch dürfen diese Schilde nicht ohne
weiteres als Beispiele des kretischen Stiles des VIII. Jahrh. gelten. Sie sind dazu allzu
orientalisch, offenbar nach direkten östlichen Vorbildern möglichst treu kopiert. Einige De-
tails, wie die Umbildung des Assursymboles und das Anbeißen des Löwen mit aufwärts
gedrehtem Kopfe, zeigen, daß diese Vorbilder phönikisch waren. Aber der ganze Stil
weist auch darauf hin, daß die phönikischen Vorlagen ein fast rein assyrisches Gepräge
hatten. Und das ist nur natürlich. Aus Ägypten kennen wir keine ähnlich dekorierten
Schilde.9) Dagegen sind die Schilde aus Van rein assyrisch. Diese Art von Bronzearbeiten
hatte das assyrische Kriegervolk offenbar mit besonderer Vorliebe ausgebildet, und hier
waren sie allein Meister. Vielleicht wurden auch echt assyrische Schilde unter den φορτία
von den Phönikern nach Griechenland importiert (Her. I 1). Ein solcher könnte dem Meister
des Zeusschildes als Vorbild gedient haben. Jedenfalls werden die kretischen Schilde immer
eine Sonderstellung innerhalb der griechischen Kunstentwicklung einnehmen.
1) Museo ital. Taf. II. Vgl. Taf. X 4, das in seiner vollständigen Gestalt o. c. im Text S. 706 und
bei Milani, Studi e Materiali I Taf. II 1 abgebildet ist. 2) Athen. Mitt. XXXI 1906 Taf. XXIII.
3) Winnefeld: Bronzebecken von Leontinoi. 59. Winckelmannsprogramm. Tafel. Vgl. auch die etrus-
kischen Bronzen, Notizie degli scavi 1901 S. 323ff. Fig. 1—2.
4) Vgl. über diese Helmform Halbherr und Orsi, Museo ital. II 806 ff. 5) Studi e Materiali 14 und 5.
6) Roschers Lexikon s. v. Kureten S. 1624L Vgl. aber jetzt Prinz, Athen. Mitt. XXXV 1910 S. 149 Anm. 1.
7) Wilamowitz, Berl. Sitzungsber. 1906, IV S. 65 Anm. 1 und S. 78 Anm. 5. Sonst vgl. Miss Harrison,
Annual of Brit. Sch. XV 1908/9 S. 308ff. Bosanquet ibid. S. 339ff.
8) Poulsen und Dugas, Bull, de corr. hell. XXXV 1911 S. 405. 9) Halbherr-Orsi 1. c. S. 772.
 
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