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Poulsen, Frederik
Der Orient und die frühgriechische Kunst: mit 197 Abbildungen — Leipzig, Berlin: Druck und Verlag von B.G. Teubner, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.52590#0175
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Die geschlossene Hand in der frühgriechischen Kunst; Kreta in der früharchaischen Zeit 161

ZWÖLFTES KAPITEL
DIE BEDEUTUNG DER FRÜHKRETISCHEN KUNST
Wir haben schon in den früheren Kapiteln mehrfach Gelegenheit gefunden zu betonen,
daß wir die von Loewy vertretene Ansicht von der ausschließlichen Priorität Kretas in der
Motiv- und Typengeschichte der frühgriechischen Kunst nicht teilen. Der „Pankretismus“1),
durch die reichen kretischen Funde der letzten Jahre psychologisch erklärlich, ist gewiß in
seiner Einseitigkeit ebenso verkehrt wie der frühere Panionismus. Im Gegensatz dazu haben
wir uns bestrebt, die Beiträge der verschiedenen Landesteile zur Herausbildung der früh-
archaischen, griechischen Kunst und das verschiedene Verhalten derselben zu den orienta-
lischen Vorbildern aufzuklären, so weit es bei dem vorhandenen Material möglich war, und
zwar hat es sich dabei herausgestellt, daß Rhodos, Kypern und das eigentliche ionische Ge-
biet alle bei dieser Entwickelung mitgewirkt haben. Die Überschätzung der kretischen Früh-
kunst ist eben nur möglich, wenn man das intime Verhältnis der frühgriechischen Kunst über-
haupt zu der orientalischen, besonders zur syrischen Kunst nicht beachtet, sondern, sofern
man über Kreta hinausgeht, nur in Ägypten Anschluß sucht.
Die wirkliche und wahre Bedeutung Kretas läßt sich am leichtesten auf dem Gebiet
der Vasenmalerei nachweisen. Für die Ausbildung der polychromen Malerei, die im VII. Jahr-
hundert in der jüngeren Rheneiagattung anfängt, um im folgenden zur Blüte zu gelangen,
muß die noch in der geometrischen Zeit fortlebende kretische Kamarestechnik die Grundlage
gebildet haben.2) Daß auch die kretische Bronzekunst im VII. Jahrh. hoch stand, und daß
deren Motive über die Inseln und nach dem Festlande sich verbreiteten, habe ich bei der
Veröffentlichung der Bronzemitra von Rhetymno näher nachzuweisen gesucht.3) Auch unter
den im vorigen Kapitel genannten Figuren mit der Etagenperücke gibt es einige, die man
wegen der formellen Übereinstimmung mit der „Dädalidenkunst“ verbinden möchte, so z. B.
die delphische Bronzefigur XLI wegen der Ähnlichkeit mit der kretischen XL und die schöne
Frau auf der Metope von Mykenai Abb. 178 wegen der Übereinstimmung in der Gesichts-
bildung mit derselben Bronze XLI.
Kreta mag also in der bildenden Kunst wie in der Dichtung und Musik noch im VII.
Jahrh. eine bedeutende Rolle gespielt haben, bevor es in der klassischen Zeit künstlerisch
wie geistig immer mehr verfiel.4) Aber die Zeit, wo Kreta, wie die Überlieferung von der
Besiedelung Kleinasiens lehrt5), als das heilige Land des Kultus und der Kultur galt, war
doch schon im VII. Jahrh. vorüber, so daß es unhistorisch ist, die ganze frühionische Kunst
aus der kretischen herzuleiten, wie Loewy es tut. Die Ephesusfunde reden denn auch eine
andere Sprache, wie wir es im VIII. Kapitel näher ausgeführt haben.
In der Plastik läßt sich die lokale Eigenart viel schwerer als in der Vasenmalerei unter-
scheiden, und so ist die Einordnung in Schulen, zumal wo es sich um Werke der Frühzeit
handelt, die durch gemeinsame, primitive Züge unter sich verwandt sind, eine heikle Sache.
Loewy legt bisweilen auf die formellen Übereinstimmungen ein allzu großes Gewicht. So
1) Lechat, Revue des etudes anciennes 1910 S. 329 f. Wiederholt von Deonna: L’Archeologie I 141.
Loewys Aufsätze: Typenwanderung· sind in den Österreichischen Jahresheften XII und XIV erschienen.
2) Poulsen und Dugas, Bull, de corr. hell. XXXV 1911 S. 404 f. Vgl. Rhomaios, Athen. Mitteil. XXXI
1906 S. 186 ff.
3) Athen. Mitt. XXXI 1906 S. 373 ff. 4) Wilamowitz: Homerische Untersuchungen S. 269 Anm. 2.
5) Wilamowitz: Über die ionische Wanderung. Sitzungsber. der Berl. Akad. 1906, IV S. 73.
Poulsen: Der Orient u. d. frühgriech. Kunst 11
 
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