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Poulsen, Frederik
Der Orient und die frühgriechische Kunst: mit 197 Abbildungen — Leipzig, Berlin: Druck und Verlag von B.G. Teubner, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.52590#0181
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Die sogenannte kretische Haartracht, älter auf Rhodos

167

Hier sind die langen Lockenspitzen als
Abschluß der Etagenperücke ungefähr ebenso-
weit gediehen als bei dem Mann der spartani-
schen Elfenbeinplatte Abb. 189. Und nun treten
die rhodischen Terrakotten bestätigend hinzu.
Zunächst der Torso, den wir als Abb. 186 re-
produziert haben. Hier erkennt man unten als
Abschluß der Zickzack-Etagenperücke selbst
in der Abbildung, noch klarer im Original, kleine
„kretische“ Löckchen. Dann finden wir die-
selben ebenfalls in einem zweiten Terrakotta-
kopf aus Rhodos, der wie der vorige in einem
Grab mit altrhodischen Vasen zusammen ge-
funden sein soll (Abb. 195).1) Kleine, flammen-
artig gekrümmte Locken hängen am unteren
Rande der Perücke, und bei diesem Terrakotta-
kopf sind auch die übrigen Haarmassen wie bei der kretischen Frauenfigur von Auxerre in
kleine Vierecke geteilt, und die Stirne weist ähnliche Spirallocken auf. Der Vergleich mit
Abb. 187 überzeugt jeden Unbefangenen gleich, daß die kretische Haartracht eine rohere
Vereinfachung dieser rhodischen ist. Nicht die Kreter allein ahmten hier nach. Eine proto-
korinthische Lekythos mit plastischem Kopf in Athen zeigt dieselbe Kombination von flammen-
artiger Begrenzung der Perücke und von spiralgewundenen Stirnlocken.2) Und was haben
nicht die Ionier aus dem würfelgeteilten Haare gemacht! Welche Formenfülle zeigt nicht
die Haartracht des prachtvollen ionischen Kopfes in Konstantinopel, dessen Fundort unsicher
ist3), obwohl die einfache Haarbildung der rhodischen Terrakotta Abb. 195 die Grundlage
bildet! Gegen die ist die kretische Haartracht die reine Armut. Und die flammenartigen
Lockenspitzen, um derentwillen Loewy die männliche, stehende Figur von samischem Typus
mit Kreta verknüpft, kommen auch bei einigen der Figuren der ionischen Vase von Vulci vor.4)
Somit weisen die Fundumstände und die allmählige Herausbildung, daß die sogenannte
kretische Haartracht auf Rhodos schon im VII. Jahrh. entstanden ist und nach Kreta herüber
gewandert ist, wo sie sofort erstarrt.
Aber dieser Zug gibt uns nicht viel Vertrauen zur kretischen Priorität und Produk-
tivität überhaupt. Und wenn Bremer als einziges Beispiel dieser Haarmode im ionischen
Gebiet den Frauentorso von Chios nennt5), den Lechat ausführlich besprochen hat6), dann
wollen wir doch darauf aufmerksam machen, daß dieser Torso in der Haltung der Hände
vor der Brust mit den Frauenfiguren der rhodischen Goldbleche Abb. 193-194 genau über-
einstimmt, und daß der Mantel, den er trägt, von ausgeprägt hittitischem Typus ist.7) Jeden-
falls mischen sich wieder die Züge, und es ist gar nicht ausgeschlossen, jetzt wo wir den
Ursprung dieser Perücke auf Rhodos gesichert haben, daß der Torso überhaupt nichts mit
der kretischen Plastik zu tun hat.


1) Catal. of Terracottas of Brit. Mus. B 144.
2) Nicole: Catal. des vases peints d’Athenes, Supplement Tat. IV 847.
3) Bull, de corr. hell. 1884 Tat. X. Perrot VIII 280. Deonna: Apollons S. 232 nr. 134.
4) Loewy 1. c. S. 294. Furtwängler-Reichhold Tat 21.
5) Die Haartracht des Mannes S. 30. 6) Sculpture attique S. 273 ff. Loewy 1. c. S. 244 ff.
7) Sendschirli IV 343 Abb. 254.
 
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