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473. darnach, so ich mich nicht täusche, wenn ich des Scheitels
eines solchen Haupts
474. beraubt werden sollte, werde ich sogleich zum Volks-
gespött,
475. herumirrend wie ein Lamm, das vom Rücken des Hirten
gefallen ist.
476. Deshalb, mit mir, o Sohn, gib Dir Mühe, Deine Bitten
477. vor Christo auszugießen, damit uns nicht das Schicksal
478. mit ungünstigem Fuß dahinstrecke und uns die Freude
479. an einem solchen Hirten nehme, der voll von himm-
lischer Liebe ist!
480. O heilige Mutter Gottes, Jungfrau, übergib oft unsere
Bitten
481. Deinem Sohn, für uns und für das Leben dessen, der
uns regiert!
482. Und alle Heiligen, zu deren Ehre er
483. Gottes Tempel weihen ließ, die er ringsherum schuf,
484. seiner bei Gott eingedenk ohne Ende in Ewigkeit
485. mögen ihm die Rechte seiner Macht mit der Frühlings-
blüte der Ruhe
486. erwerben, mit dem Tröste Christi;
487. und wenn dereinst die Hülle des sterblichen Körpers
niedergelegt ist,
488. werde ihr Genosse (die Seele) auf den himmlischen Sitz
erhoben!
489. Das walte Gott selbst, der dreifach und einzig besteht,
490. daß der Vater Witigowo wohl lebe und mächtig herrsche,
49t. und daß sein Name durch die Jahrhunderte lebe, Amen!

492. Hier gibt das Ende des Gedichts den Schluß (vers) und
er bringt Ruhe
493. der Mühe des Schreibers, weil die ganze Arbeit mit
Entgleisung drohte237,
494. aber immer wird der Lohn mächtig bleiben ohne Ende.

495. Nachher, als er glücklich ins elfte Jahr gekommen war,
496. die ihm anvertrauten Seelen mit gelassener Mäßigung
zügelnd,
497. ließ er der Kirche, die zu Ehren des Märtyrers Christi,
498. der Pelagius238 genannt ist, wie die Schrift singt,
237 Das Wortspiel „labilis labor" ist nicht übersetzbar. Wenn eine
freie Übertragung gewagt werden darf, könnte sie lauten: „Stro-
phen schützen nicht vor Strafen".
238 Eine Pelagiuskirche ist vor Witigowo nicht urkundlich belegt.
Da dem bestehenden Bau aber zur Zeit Witigowos bereits der Ver-
fall drohte, so muß sie damals schon ein hohes Alter besessen
haben. K. Beyerles Annahme (KAR S. 386/7), daß die Pelagius-
kirche gelegentlich der Übertragung der Reliquie aus Italien nach
Konstanz (904) von Abt Hatto III. erbaut worden sei, ist deshalb
wohl gerechtfertigt. Der Platz der Kirche war unzweifelhaft von
Anfang an am Rande der Hochfläche südlich des Klosters, von der
aus der Weg zum Kloster abfällt, neben dem Markustor. Das geht
u. a. auch aus dem Carmen hervor. Nach dessen Schilderung der
baulichen Verhältnisse muß man annehmen, daß die Fundamente
der Kirche auf dem abfallenden Gelände nicht genügend tief ge-
gründet waren; auch das Vorkommen von Flugsand ist dort im
Windschatten des Abhangs glaubhaft. Außerdem erscheint die
Pelagiuskirche im Carmen in unmittelbarem textlichen und zeit-
lichen Zusammenhang mit der Pfalz. Witigowo konnte neben
seinem prächtigen Neubau die schadhafte alte Kirche nicht ohne
Verbesserung belassen. Obwohl auf die Pelagiuskirche in späterer
118

499. das eingeschlossene und von engen Grenzen umgebene
Haus,
500. welches vorher im Innern das Mauerwerk nicht richtig
unterstützte,
50t. das noch kein Vernünftiger in günstigem Licht gesehen
hat,
502. — indem er sagte, daß dieses konstruiert worden sei
von Leuten, die mindere Ausbildung genossen hätten —
503. das jetzt so unförmig gewordene (Mauerwerk) er, der
Vater, wiederherstellen;
504. indem er die gehäufte Masse des stäubenden Sandes
505. ausglich (ebnete), schuf er einen ehrenvollen Tempel
mit geräumiger Umgebung.
Zeit der Titel der abgegangenen Erasmuskapelle überging (siehe
Anm. 68), so hat sich ihr Haupttitel doch bis ins T9. Jahrhundert
erhalten. Schönhuth, der den Bau noch gesehen hat (O. F. Schön-
huth, Chronik des ehern. Klosters Reichenau r836, S. XXIV) kennt
beide Titel; Fr. X. Staiger (Die Insel Reichenau im Untersee, r86o)
berichtet in einem handschriftlichen Zusatz zu dem Abdruck im
Besitz der Wessenbergbibliothek in Konstanz, daß die Kirche im
Volk „Bläuelkirchle" genannt wurde, was eine zweite Eindeut-
schung des zu öhems Zeiten „Sant Polayen" (Br. 33 und 125) lau-
tenden Titels bedeutet. Über die Gestalt der Kirche siehe Ab-
schnitt III B Bildquellen Nr. 2 Darnach ist anzunehmen, daß St. Pe-
lagius von Anfang an eine einschiffige Kirche war, wie sie auch ein
Randbild des Gemarkungsplans von 1702 zeigt. Witigowo hat,
nach dem Wortlaut des Carmen, an ihrem Grundriß nichts ge-
ändert. Die gegenteilige Meinung Öhems, daß er sie „gewittrot -
erweitert" habe, beruht auf einer falschen Auslegung des Textes;
das „spacioso margine" des Verses 505 bezieht sich nach dem Vor-
hergegangenen (bes. V. 499 und 504) auf die Umgebung der Kirche.
Auch die Meinung anderer Bearbeiter, daß Witigowo die Licht-
verhältnisse der Kirche verbessert habe, ist unbegründet. Das
„lumine aequo" des Verses 50T ist nämlich in übertragener Bedeu-
tung zu verstehen und bezieht sich auf das vorhergehende „struc-
tura"; Witigowos Maßnahme war eine rein technische. Die Maße
der Kirche betragen nach dem Plan von Ende (siehe dazu die
Anm. 45) etwa r4,5 zu 8,5 Meter. Die westlichen Grundmauern
dürften, nach Mitteilungen des Geländeeigentümers, noch im
Boden stecken, dagegen scheinen die östlichen durch die Verschie-
bung der Straße nach Westen und ihre Tieferlegung im 19. Jahr-
hundert beseitigt worden zu sein,- wenigstens trat beim Ausgraben
für die Wasserleitung in der Straße kein Mauerwerk auf. Witigo-
wos Unterfangung der alten Grundmauern kann also nicht sehr
tief gereicht haben. Nicht gleichgültig ist die Frage nach dem
Zweck der Pelagiuskirche. Gall Öhem berichtet nämlich (Br. 34, 1):
„Es ist vast ain alte kilch; sol vor jaren dess münsters pfarrkilch
gewesen sin." Das könnte sich nur auf die Zeitspanne von der
Erbauung der Pelagiuskirche (nach 904) bis zur Erbauung der Pfarr-
kirche St. Johann durch Abt Eggehard I (958—72) beziehen und er-
gäbe einen ungewöhnlich frühen Termin für die Aussonderung
eines Pfarrbezirks bei einem Kloster, der dann ein Menschenalter
vor dem gleichartigen Vorgang in der Bischofsstadt Konstanz läge.
Ein Vergleich mit den Abmessungen der vor ihr bestehenden
ersten Kirchenanlagen in Niederzell und Oberzell, die zweifellos
doch auch dem Pfarrdienst dieser Nebengemeinden der Insel dien-
ten, bzw. mit denen der sicher als Pfarrkirchen belegten frühen
Kirchen in Konstanz u. a. St. Paul (Hecht, Tafel 152) zeigt, daß die
Pelagiuskirche als Pfarrkirche der Hauptsiedlung der Reichenau
doch zu klein gewesen wäre. Trotzdem steckt wohl ein wahrer
Kern in öhems Bericht. Die Pelagiuskirche war, wie in Abschnitt
IVB, Räumliche Entwicklung des Klosters, gezeigt worden ist,
wahrscheinlich als Wegkapelle für das Volk bestimmt und ge-
stattete, ihrer Größe nach, auch einfache Laiengottesdienste. Auf
dem Randbild des Gemarkungsplanes von 1702 ist an der Südseite
beim Westgiebel noch der alte Eingang zu sehen, durch den man
die Kirche vom Platz vor dem Klostertor und der Pfalz betrat.
 
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