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Fahrt von Orleans nach Paris.

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Unter den modernen Sculpturen, welche das Gouvernement hier¬
her, sowie in die meisten Provinzialsammlungen schenkt, wie es «
scheint, um die vielen, von ihr angekauften Preisarbeiten loszuwer¬
den, fiel mir eine aus dem Bade emporsteigende Nymphe von wirklich
großartiger, nicht manierirter Ausführung des weiblichen Körpers auf;
sie ist von Molchnecht. Die im Bad überraschte Venus von Pradier
erscheint dagegen sehr hetärenmäßig. Bei der Masse der plastischen
Produktionen der jetzigen Franzosen ist die fast ausschließliche Darstel-
lung weiblicher Körper, in Situationen, die die Schaustellung sinn-
licher Fülle bezwecken, ein wenig günstiges Zeichen für die geistige Stel-
lung der plastischen Kunst, wie für ihre allseitige Erfassung des mensch-
lichen Körpers.
Wir stehen hiermit an dem Schlüsse unserer kunsthistorischen Wan-
derung durch Orleans. Noch wenige Stunden für leibliche Stärkung
und Erholung sind uns vergönnt, ehe wir die letzte Strecke unserer
Rundreise durch Frankreich vollenden. Ein schöner, reiner Abendhim-
mel ruht über der Stadt und ihren freundlichen Promenaden, als
wir zum Bahnhof eilen. Das bald einbrechende Dunkel, nur unter-
brochen durch die Bahnhofsbeleuchtung der rasch sich folgenden Sta-
tionen, durch die aus der Tiefe hervorschimmernden Lichter von
Utampes gab volle Zeit dankbar auf die lange Reihe von Tagen zu-
rückzublicken, die mir ein so reiches, nur allzurasch sich abrollendes
Bild französischen Städtelebens gewährt hatten. Im Coupö befinden
sich zwei Nonnen aus Tours, von denen die eine Paris bereits kennt
und mit großer Beredsamkeit und Lebendigkeit von seinen Schönheiten
spricht, nicht weniger aber auch von ihrem Beruf. Die andere ist still und
ängstlich und horcht nur befangen der eifrigen Herrenunterhaltung, in
die die andere sich vertieft. Jene war mir ein interessantes Beispiel der
französischen, d. h. speciell Pariser Stellung und Bildung der Frauen¬
welt, wie sie in allen Ständen und Berufskreisen wiederkehrt.
Da debnen sich die langen Räume des Pariser Bahnhofs. Das
Geräusch menschenbelebter Straßen dringt zu uns. An dem Jardin
des plantes vorüber, wahrhaft überrascht und geblendet von dem Lich-
termeer am Seinequai, neu begrüßend die edeln Massen der Kathe-
drale, nahen wir uns jede Minute mehr dem Centrnm der Weltstadt.
 
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