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Durch eine ungewöhnlich reiche, in vielen Ländern erworbene Kultur und noch viel mehr
durch eine früh gewohnte Disziplin des Denkens schien ihr Geist zu fruchtbringender Forschung
ohne weiteres befähigt zu sein. Sie hatte sich ja ihr Leben lang unter das strenge Gesetz der Arbeit
gestellt und stets nur solche Werte schätzenswert gefunden, die sich in zielbewußtem Streben
ein jeder selbst erringen muß. So weihte sie auch diesen neuen Anfang durch jenen heiligen
Ernst, mit dem sie überhaupt im Großen wie im Kleinen ihre Pflichten zu erfüllen gewohnt war.
Wie schnell und natürlich gestalteten sich ihre Arbeitspläne! Wie eifrig bereitete sie ihre Aus-
führung vor! Wie weniges sollte ihre Hand vollenden!
Der Gedanke an den Tod, der häufig in höheren Naturen schöpferisches Wollen und Voll-
bringen auslöst, war ihr durch besondere Schickungen besonders vertraut geworden. Sie konnte
die Flucht der eilenden Stunden nicht halten, aber sie suchte ihnen doppelte Gaben abzuringen.
Und indem sie so der sieghaften Macht ihres Willens die früh zerstörten Kräfte ihres Körpers
auf opferte, vollendete sich schnell und unabwendbar die Tragik ihres Geschickes. Sie starb, als
sie von ihren hohen Zielen nur das höchste verwirklichtfühlen mochte: Dasfarbenreiche, festgefügte
Kunstwerk ihres eigenen Wesens hatte sich zu reiner Menschlichkeit verklärt.
Ein Totenopfer ist dies Buch geworden, das zum Weihgeschenk bestimmt war! Ein Toten-
opfer, das der Abgeschiedenen vollenden soll, was ihr im Leben unvollendet blieb. Von den
Reliquien Michelangelos seine Bildnisse zu sammeln, das schien eine würdige Betätigung der
Dankbarkeit zu sein für zwei Menschen, die einst vor der Pieta des Meisters im Dom zu Florenz
die goldenen Ringe getauscht und seinem Schmerz ihr junges Glück vertraut hatten. Von seinem
Genius behütet durfte sie hoffen, die erste Prüfung zu bestehn. Seine segenspendenden Hände
sollten auch ihre Hände füllen, die alles geben wollten, alles gaben, was notwendig schien, das
Problem anzugreifen, die Tat zu vollbringen, den spröden Stoff auch äußerlich zum Kunstwerk
zu gestalten. So hat sie allein den nicht geringen Aufwand bestritten, den diese Arbeit mehr als
manche andere verursachen mußte. Und so sollte dies Buch der Gemeinschaft das Dankopfer
der Glücklichen sein, die sich im Hafen ihrer Liebe geborgen wähnten vor den Stürmen des
Lebens. Sie wollte es der strengen Göttin selbst am Altar ihres Tempels niederlegen.
Wie Euphrosyne fürchtete sie sich, ohne Kranz und ohne Gürtel im dunklen Gedränge der
Schatten dahinwandern zu müssen. Sie wollte mit Antigone und Polyxena, mit Euadne und
Penelope im Kreise hoher Frauen am Thron der Persephone stehn.
Wer auf den folgenden Blättern des Unsterblichen schmerzzerrissene Züge betrachtet, zu
dem möge auch der Schatten dieser Frühvollendeten sich neigen, und ihr Name möge still in
diesem Buche weiter leben, wie der Name Michelangelos über die Erde klingt. Denn wenn sie
auch im Leben keinen Ruhm gewann — in einer völlig unbegrenzten Fähigkeit zu leiden, war
ihr doch eine hohe Eigenschaft mit seinem hohen Geist gemein.
 
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