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Michelangelo; Steinmann, Ernst [Hrsg.]
Die Portraitdarstellungen des Michelangelo — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 3: Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.47056#0018
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MICHELANGELO UND DIE PORTRÄTKUNST

DES Menschen Gegenwart, sein Gesicht, seine Physiognomie sind der beste Text
zu allem, was immer über ihn gesagt und kommentiert werden kann.« Niemand
anders als Goethe hat diese Erfahrung ausgesprochen, und Lava ter hat ihre Rich-
tigkeit mit Nachdruck bestätigt1). Wir können also die Seele eines Menschen ergründen,
wenn wir seine Züge mit Aufmerksamkeit betrachten.
Wenn sich aber die Augen eines solchen, dessen Inneres wir erforschen möchten, längst
geschlossen haben, so sind wir gezwungen, seine Bildnisse zu befragen und in ihnen den
Text für seine Werke zu lesen. Denn das Angesicht des Toten, sagt Leon Battista Alberti
lebt noch durch die Kunst ein langes Leben2), durch eben jene Kunst, die Vittoria Colonna
pries, weil sie es der Witwe vergönne, »täglich des verlorenen Gatten vertrautes Antlitz
zu betrachten«3).
Und diese Kunst des Porträts in jedem Material mit Pinsel und Meißel, mit Zeichenstift
und Grabstichel ausgeführt, ist vielleicht zu keiner Zeit allgemeiner und mit größerer
Meisterschaft geübt worden, als eben in jenenTagen, deren Aufgang Alberti sah und deren
Niedergang Vittoria Colonna erlebte. Wenn wir die Bildnisse jener Tage betrachten, so
meinen wir, die Natur habe die menschlichen Spezies noch niemals vorher in einer so
unerschöpflichen Fülle schöner Gleichnisse dargestellt und die Kunst habe noch nie
so reiche Mittel besessen, diese Typen festzuhalten. Eine Unbeugsamkeit des Willens und
eine Energie der Tat prägt sich wie mit ehernem Griffel geschrieben in den Zügen
der Männer aus, und eine sinnenfreudige von höchster Kultur durchgeistigte Anmut läßt
die Frauen begehrenswert zugleich und anbetungswürdig erscheinen. Und allen diesen
tapferen Männern und allen diesen wunderbaren Frauen war jene Sehnsucht eigentümlich,
die uns noch heute ergreift, wenn uns in irgendeinem Sinne die Vorstellung höchster
Vollendung entgegentritt. Wir wünschen das Errungene festzuhalten, den Moment zur
Dauer, das Flüchtige zum Ewigen umzugestalten.
Aber das Ewige verbindet sich nur widerwillig mit dem Endlichen, und die Unsterb-
lichkeit breitet ihren Glanz nur selten über das Dunkel des Einzeldaseins aus. Der Tod,
gerechter als das Leben, verlöscht die Namen früher oder später, deren Ewigkeitsansprüche
nicht echt gewesen sind. Die Zahl der unbekannten Bildnisse, die uns die Renaissance
vermacht hat, ist nicht zu zählen; wohl aber blieben fast immer die Namen der Meister
mit ihren Werken verbunden.
Aber auch das Umgekehrte hat sich nicht selten ereignet, vor allem wenn sich der große
Name mit der Person des Dargestellten, nicht aber mit dem Künstler, verband. Ist denn
die Kunst des Porträtmalens nicht überhaupt erst an dem Wunsche erstarkt, das Andenken
menschlicher Grösse durch ein Bild und Zeichen festzuhalten? Zwar ist schon imTrecento
der größte Geist des Jahrhunderts durch den berühmtesten Pinsel verherrlicht worden, und
der Name Giottos ist unauflöslich mit dem Namen Dantes verbunden4). Aber die Mehrzahl
der Porträts, die wir von Dante, Petrarca und Boccaccio besitzen, tragen keinen Künstler-
namen, und das Gleiche ließ sich bis heute von fast allen Bildnissen Michelangelos behaupten.
i) Lavaters Physiognomik. Wien 1829. II, 20.
2) Quellenschriften für Kunstgeschichte. Wien 1877. XI, 89. Waetzold, W., Die Kunst des Porträts. Leipzig 1908. p. 3.
3) Francisco de Hollanda. Quellenschriften für Kunstgeschichte. Wien 1899. p. 45.
4) Richard Thayer Holbrook, Portraits of Dante from Giotto to Raffael. London 1911. p. 73 ff.

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