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Michelangelo; Steinmann, Ernst [Hrsg.]
Die Portraitdarstellungen des Michelangelo — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 3: Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.47056#0023
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ÄUSSERE
ERSCHEINUNG UND LEBENSGEWOHNHEITEN
Nach Schopenhauer liegt der Ausdruck des Genies darin, daß man das Losgesprochensein
des Intellekts vom Dienste des Willens, das Vorherrschen des Erkennens überdas Wollen
deutlich in seinen Zügen liest. »Und weil alle Pein«, so schreibt er, »aus dem Wollen
hervorgeht, das Erkennen hingegen an und für sich schmerzlos und heiter ist; so giebtdies
ihren hohen Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick, als welche dem Dienste des
Willens und seiner Noth nicht unterthan sind, jenen Anstrich großer, gleichsam über-
irdischer Heiterkeit, welcher zu Zeiten durchbricht und sehr wohl mit der Melancholie
der übrigen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammenbesteht, in dieser Verbindung
aber treffend bezeichnet werden kann durch das Motto des Jordanus Brunus: In tristitia
hilaris, in hilaritate tristis«x).
Daß der junge Michelangelo herzlich lachen konnte und einen ausgeprägten Sinn für alles
Komische besaß, erhärtet seinVerkehr mit Männern wie Bugiardini, Menighella,Topolino
und Jacopo l’Jndaco2); daß er auch in späteren Jahren noch zuweilen mit den Fröhlichen
fröhlich war, bezeugt ein Brief des Claudio Tolomei3). Aber schon im Jahre 1497 schrieb
er an den Vater nach Rom, er möge ihm verzeihn, wenn er zuweilen so unfreundlich
schreibe: »ich fühle eben oft so bittere Schmerzen, wie sie denen nicht erspart bleiben,
die in der Fremde leben müssen4)«. Und im Laufe der Jahre steigerte sich diese natürliche
Anlage zur Melancholie und erhielt durch den immer stärker hervortretenden Hang zur
Einsamkeit reichliche Nahrung5). Michelangelos aulbrausender Charakter brachte ihn
überdies beständig in schroffen Gegensatz zu anderen Menschen, und er bekannte selbst,
daß ihn die lange Erfahrung des Lebens mißtrauisch gemacht habe6). Niemals begegnen
uns in seinen Briefen Ausdrücke von Befriedigung oder Affekte von Freude oder Glück;
immer wieder dagegen sehn wir den einsamen Mann schwermütigen Gedanken und
bitteren Verstimmungen preisgegeben: »Sage der Francesca sich zu beruhigen, denn sie
hat viele Genossen im Schmerz vor allem heute, wo die besten am schwersten leiden
müssen «7). »Als ich neulich ganz allein in meinem Hause verstimmt und traurig unter
alten Erinnerungen grub, fand ich eine Fülle jener Dinge, die ich Euch einst zu senden
pflegte»8). »Und wenn man vor Schmerz und Schande sterben könnte, so wäre ich nicht
mehr lebendig«9). Das sind die Stimmungen, aus denen heraus fast alle jene Briefe verfaßt
sind, die meist geschäftlicher Natur waren, oder Familienangelegenheiten behandelten.
Ja, die Schriftstücke, die an Leonardo Buonarroti nach Florenz gingen, sind oft mit so
jugendlichem Ungestüm, mit so schneidender Härte und Bitterkeit geschrieben, daß wir
1) Die Welt als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, herausgegeben von Paul Deußen II, 433.
2) Vasari ed. Milanesi VI, 202 ff. VII, 282; VI, 133 ff.
3) Delle lettere di M. Claudio Tolomei. Venezia 1550 p. 42 v. Wieder abgedruckt von Bottari, Lettere sulla pittura etc.
Mailand 1822 V, p. 106.
4) Lettere ed. Milanesi p. 4.
5) Vasari VII, 270. Milanesi, Lettere p. 265 p. 283, p. 289, p. 294.
6) Lettere ed. Milanesi p. 190 »io per la lunga sperienza son sospettoso«.
7) Milanesi, Lettere p. 241.
8) Ebendort p. 525 und 526.
9) Vasari VII, 247.

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