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So fühle dich durch ihre Kraft beseelt!
Und gib ihr so ein unzerstörlich Leben,
Das keine Macht entreissen kann zurück!
( Goethe)

Sie fürchtete sich wie Euphrosyne ohne Kranz und ohne Gürtel im dunklen Gedränge der
Schatten einherschreiten zu müssen. Sie wollte mit Euadne und Penelope, mit Antigone und
Polyxena im Kreise hoher Frauen am Thron der Persephone stehn.
Sie hatte auch schon früh in jungen Werdejahren den Grund zu eigenen Taten gelegt und
an den reinen Quellen des Lebens die durstigen Lippen genetzt.
Es gab eine Zeit, wo sie das Dasein froh bejahte, wo sich zum Wunsch die Hoffnung drängte,
wo Hoffnung schon Erfüllung schien. Es gab eine Zeit, wo ihren hellen Augen das Rätsel der
Sphinx nicht rätselhaft dünkte, wo des Glückes goldener Glanz ihre Stirn berührte, wo es war,
als wolle sich zu ihrer Jugend, ihrer Anmut, ihrem Geist willig und gütig die Freude gesellen.
Aber diese Blütenträume waren schnell verweht, und sie mußte allzufrüh erfahren, wie neidisch
das Schicksal denen gesonnen ist, die eine verschwenderische Natur allzureich bedacht hat.
Heimsuchungen von unaussprechlicher Bitterkeit reiften früh in ihrer Seele die Erkenntnis, daß
ihr auf Erden gewiß kein alltägliches, vielleicht ein tragisches, niemals aber ein glückliches Los
beschieden sein würde.
Sie verhüllte nicht das Haupt vor diesem Schicksalsspruch, aber ihre goldene Heiterkeit
verließ sie. Sie sammelte gefaßt ihre seelischen Kräfte, und mit ahnungsvollem Geist erkannte
sie in der Überwindung des Leidens die letzte Größe des Menschen.
Und so wurde ihrem inneren Auge jene wundersame Offenbarung zuteil, daß in dieser
rätselreichen Welt das Unglück höhere Werte zeitigt als das Glück. Sie sah, daß die Weisheit
des Unerforschlichen sich gerade der leidenden Menschen als der vollkommenen Werkzeuge
bedient, seinem Weltgebäude erst den schönsten Schmuck zu geben. Und sie erkannte, daß
solche Werkzeuge nur im Feuer stets sich erneuernder Schmerzen hart und blank und scharf
geschliffen werden können. Und nun erst lernte sie sich selbst begreifen; nun erst erfaßte sie, sich
selbst entsagend, ihrer irdischen Bestimmung höheren Sinn.
Wie schmerzt die Erinnerung und wie beglückt der Gedanke, einem solchen Wesen die
glimmende Fackel des Lebens noch einmal neu entfacht zu haben! Wie drängt sich der Wert
eines ganzen Daseins in das Bewußtsein zusammen, solchen Augen neuen Glanz gegeben,
solchen Lippen ein flüchtiges Lächeln zurückgeschenkt zu haben!
So erlebte denn ihr Herz den blütenschweren Frühling einer neuen Liebe, und weil es nun
galt, der Kunst, der vielgeliebten, zu entsagen, so begann ihr strebender Geist nach neuer Be-
tätigung Umschau zu halten. Zwar hörte sie niemals auf, die klingenden Tiefen ihrer Seele in
Liedern auszuströmen, aber zu Kunst und Dichtung gesellte sich jetzt die Wissenschaft. Sie
wollte in denselben dunklen Schächten nach goldenen Schätzen graben, in denen sie den
Lebensgefährten bereits an der Arbeit wußte.

IX
 
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