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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Schmarsow, August; Ehlotzky, Fritz: Die reine Form in der Ornamentik aller Künste, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0006
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AUGUST SCHMARSOW.

Zuschauer gedacht werden kann. Alle wahre Ausdrucksbewegung ist
zunächst unwillkürlich; sie steigt ihrem Träger, ihrem Urheber erst
allmählich ins Bewußtsein. Und von der Reinheit und Lauterkeit, der
Gesundheit und der Unbefangenheit der Seele hängt es ab, wie weit
auch die bewußte, oder gar willentlich wiederholte Ausdrucksbewegung
noch wahr bleibe gleich der ursprünglichen, oder ob sie sich irgend-
wie zu Ungunsten der Verläßlichkeit abwandle, bewußt oder unbewußt
nicht nur vermische, sondern gar verfälsche. Dies sind zwei andere
Möglichkeiten, die tatsächlich in einander übergleiten, und vielleicht
nur vom Urteil unterschieden werden, je nachdem man den ethischen
Gesichtspunkt an sie heranbringt oder nicht. — Wie dem auch sei,
die beobachtbaren Tatsachen gewähren hier immer noch unmittelbarer
als anderswo den Einblick in die Entstehung der Formen und in die
allmähliche Aussonderung der reinen Form, die wir an ganz bestimmter
Stelle suchen gehen.

Zu besserem Verständnis unterscheiden wir die Ausdrucksbewe-
gungen selbst von den Zweckbewegungen. Diese letzteren, denen der
praktische Verstand wohl gern ein Vorzugsrecht und damit auch einen
zeitlichen Vorsprung zuerkennt, sind entweder vom bewußten Willen
bestimmt oder werden doch von den dunklen Willensregungen des
Triebes, des Instinktes geleitet, auf ein äußeres Ziel gerichtet. Wo aber
dieses noch gar nicht vorhanden ist, da möchten doch Ausdrucks-
bewegungen immerhin schon ihren Ursprung nehmen. Doch fließen
beide Arten gewiß bald und vielfach ineinander, oder es verbindet sich
mit einer ursprünglich rein praktischen Zweckbewegung nachträglich
auch eine Ausdrucksbewegung. Ja, noch mehr, es ließe sich wohl
behaupten, daß auch keine Zweckbewegung, an sich selbst schon, ganz
ohne ihren angeborenen und eigenartigen Ausdruck sei, daß sie nicht
minder vom Mitmenschen stets zugleich als solcher gesehen, d. h. auf-
gefaßt werde. Nur vollzieht sich die Zweckbewegung eben als ziel-
strebige, zunächst in der Regel auf dem kürzesten Wege, ohne Umschweif
und ohne Schwanken, also auch treffsicher und infolgedessen so rasch,
daß für den Ausdruck einer Gefühlsbetonung weder Zeit noch Raum
mehr übrig bleibt, es sei denn, er falle mit dem direkten Ablauf der
sachdienlichen Bewegung so zeitlich wie räumlich zusammen. Stärkere
Gemütsbewegung aber macht ihre Anwesenheit alsbald durch irgend
eine Ablenkung — also räumlich — oder durch etwelche Verzögerung
— also zeitlich — bemerkbar. Die Verlangsamung des zweckmäßigen
Vollzuges oder die Erweiterung des Bogens ausgreifender Bewegung
verrät also auf jeden Fall das Hineinspielen psychischen Inhalts, der
mächtiger aufwallt, als daß ihn der zielsichere Wille noch völlig aus-
zuschalten vermöchte. Reine Ausdrucksbewegungen dagegen sind oft
 
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