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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0273
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Besprechungen.

Otto Selz, Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums.
Eine experimentelle Untersuchung. 1922; Verlag von Friedrich Cohen in Bonn.
XXVIII u. 688 S.

Dem — 1913 erschienenen — Buche über die Gesetze des geordneten Denk-
verlaufs läßt nun Otto Selz diese ungemein sorgfältige und vorsichtig besonnene
Arbeit folgen. Es ist keine geringe Anspannung, das umfangreiche Werk genau
durchzulesen, und oft muß man drängende Ungeduld bekämpfen. Aber die gewiß
umständliche Ausbreitung aller Erörterungen beruht keineswegs darauf, daß schwül-
stige Rhethorik oder geistreichelndes Gerede das Thema überwuchern; der Verfasser
bemüht sich im Gegenteil, alles Material zu kritischer Prüfung heranzutragen und
alle auftauchenden Möglichkeiten zu berücksichtigen. Das Lob der Gründlichkeit
kann der Arbeit nicht vorenthalten werden.

Und trotzdem erscheint mir die Beschränkung auf ein vorwiegend experimentell
gewonnenes Material zu eng. Oft liegen die Beispiele aus dem »wirklichen Leben«
so schlagend nahe, daß nur Vorurteil sie entweder zu übersehen oder auszuschalten
vermag. Die ganze Arbeit wäre fülliger und weniger abstrakt geworden, wenn nicht
die Wände des Laboratoriums die Freiheit des Blickes geknebelt hätten. Und manche
mühseligen Beweisführungen hätten durch eine passende Kasuistik wesentlich ab-
gekürzt werden können. Wie mager bleibt z. B. das über Inspiration Gesagte, oder
das über die Funktion des Zufalls als eines regulären Faktors der geistigen Produk-
tion. Sachlich glaube ich weithin beistimmen zu dürfen; aber warum werden nicht
die strömenden Quellen erschlossen, die aus Selbstbekenntnissen, Biographien von
Forschern, Künstlern usw. fließen, oder aus dem überraschend ergiebigen psycho-
pathologischen Material ? Warum noch immer in der Psychologie diese ängstliche
Scheu vor dem »Leben«? Mag es vielfach dem Experiment gegenüber undurchsich-
tiger erscheinen, ebensooft ist es klarer und zwingender.

Diese methodischen Bemerkungen sollen keineswegs die positive Ausbeute des
fruchtbaren Werkes schmälern. Es wurzelt in dem Gedanken, daß geordnetes
Geschehen nicht einem wirklich oder der Tendenz nach ungeordneten überlagert ist,
sondern daß die Zuordnungen, die unter dem Einfluß von Zielsetzungen wirksam
werden, von Anfang an so beschaffen sind, daß sie zu zweckmäßigen Gebilden
führen müssen. Auf motorischem Gebiet hat die Physiologie der Bewegungen schon
seit einiger Zeit — besonders seit Sherringtons Arbeiten — mit der Vorstellung
aufgeräumt, als ob durch einen Reiz ein diffuses Spiel von konkurrierenden Bewe-
gungstendenzen ausgelöst werde. Vielmehr herrscht für den Regelfall das Prinzip
der eindeutigen Zuordnung zwischen spezifischen auslösenden Reizen und bestimmten
festen Bewegungskoordinationen, die biologisch wertvolle Leistungen vermitteln. Die
alte Auffassung ist durchaus unhaltbar, als bestehe eine Hauptfunktion der »Auf-
gabe« in einer Art Auswahl der angemessenen Assoziationen durch Zurückdrängung
der anderen. Die Erscheinung einer Fülle andrängender Vorstellungen beruht nicht
auf aufgabefreien Reproduktionstendenzen der Reizwörter oder sonstiger Verlaufs-
 
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