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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0274
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270 BESPRECHUNGEN.

glieder, vielmehr auf der Konkurrenz einer größeren Anzahl aufgabebeherrschter
Vorgänge, insbesondere determinierter Wissensaktualisierungen, welche der Lösung
der Gesamtaufgabe dienen. Unter den andrängenden Vorstellungen befinden sich
nicht etwa auch solche, welche lediglich mit dem Reizwort assoziiert und demgemäß
ohne Beziehung zur Aufgabe sind, sie alle stellen Lösungsmöglichkeiten dar oder
Wege zur Lösung der Aufgabe. Der Prozentsatz der wirklich aufgabefreien Vor-
stellungen übersteigt den Wert Null nur wenig. Ohne dieser Zahl besonderes Gewicht
beizumessen, scheint mir Selz den allgemeinen Denkverlauf durchaus richtig charak-
terisiert zu haben. Die Zielsetzung pflegt unmittelbar nicht die Reproduktion gegen-
ständlicher Bewußtseinserlebnisse nach sich zu ziehen, sondern die Aktualisierung
mehr oder weniger allgemeiner intellektueller Operationen, die zur Verwirklichung
eines Ziels der betreffenden Art geeignet sind. Die herkömmliche Meinung von einem
vielfach zufälligen Assoziationen preisgegebenen Auftauchen und Verschwinden der
anschaulichen Vorstellungen kann kaum eindringlicher widerlegt werden als durch
Protokolle mit ihrem auch hinsichtlich der Vorstellungen straffen (determinierten)
Geschehen, das das Auftauchen und Verschwinden von Vorstellungen und Vorstellungs-
reihen, ebenso wie die Beschaffenheit der Vorstellungen überall in strenger Abhängig-
keit von der Aufgabe und den zu ihrer Lösung angewendeten Methoden zeigt. Wir
bedürfen also des Begriffs der intellektuellen Operation zur Bezeichnung der nur
zum Teil bewußten, wiederholbaren Gesamtprozesse, die als Ganzes einer Ziel-
setzung zugeordnet sind. Nicht eine Kette von assoziierten Vorstellungen schließt
sich aneinander, sondern die Aktualisierungen intellektueller Operationen sind es,
die miteinander verknüpft sind, und daher die einander zugeordneten Einheiten inner-
halb eines zusammengesetzten Denkprozesses bilden. Diese Einheiten sind keine
neuen psychischen Elemente, die den Empfindungen, Gefühlen usw. an die Seite
zu stellen wären, sondern sie sind komplexe nur zum Teil bewußte intellektuelle
Vorgänge, die sich in ähnlicher Weise analysieren und in Klassen ordnen lassen,
wie auf motorischem Gebiet Klassen von Bewegungskoordinationen unterschieden
werden.

Diese kargen Andeutungen sollen nicht den weitverzweigten Inhalt des Buches
erschöpfen, bloß die Richtung anzeigen, in der er sich bewegt. Unmittelbar ist sein
Erträgnis für die Lehre vom Schaffen des Künstlers gering. Denn die von Selz auf-
gewiesenen Verlaufsformen und Gesetzmäßigkeiten sind natürlich zu elementar und
allgemein, um die spezifische Struktur gerade des künstlerischen Schaffens zu treffen.
Aber mittelbar wird die Anregung für Kunstphilosophie und Kunstpsychologie bedeut-
samer. Wer auch immer zum Schaffen des Künstlers wissenschaftlich Stellung nehmen
will, wird nicht ohne Gewinn in dieses Werk sich vertiefen. Er wird an dem Bild,
das Selz vom produktiven Denken entwirft, eine weit haltbarere und zuverlässigere
Stütze finden als an den früheren Assoziations- und Konstellationslehren. Nur läuft
Selz Gefahr, die rationalistische Seite zu stark zu betonen. Im Zusammenhang seiner
Arbeit war dies nicht zu vermeiden, und seine Anschauungen scheinen mir im wesent-
lichen berechtigt. Aber zu einer erschöpfenden Psychologie des produktiven Denkens
müßten nun die irrationellen Faktoren mehr herangezogen werden, als dies Selz tat.
Er kennt diese Faktoren und geht auch auf sie ein; aber die angemessene Aus-
balancierung ihrer Gewichte ist noch nicht gefunden. Und sie ist entscheidend wichtig:
sowohl grundsätzlich für das künstlerische Schaffen als auch für seine Typologie.

Rostock.

Emil Utitz.
 
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