Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0091
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN. 87

dichterischer Weltanschauung, die die Form nicht einfach »walten läßt«, sondern
deren Eigentümlichkeit »vielleicht am besten als Durchbrechen der Form zu be-
zeichnen wäre. Damit soll nicht einfach natürliche Formlosigkeit bezeichnet werden,
entsprungen aus bloßem künstlerischen Unvermögen, das die Form noch nicht ge-
funden hat, sondern eine bewußt auf das Amorphe gehende künstle-
rische Absicht, welche das Bewußtsein der Form und deren Negation
in sich einschließt« (S. 18). Auf zahlreiche Formulierungen ist diese merk-
würdige »Formlosigkeit durch das Formale hindurch« selber schon gebracht worden,
die Tumarkin zum Teil erwähnt und einer kurzen Betrachtung unterzieht (S. 23—27).
Ob Nietzsche den dionysischen Rausch der klaren apollinischen Vision gegenüber-
stellt als ein gleichberechtigtes Anderes, oder ob Dilthey das Wesen des philo-
sophischen Strebens in die Worte faßt: »Der Tiefsinn des Gemütes und die Allge-
meingültigkeit des begrifflichen Denkens ringen miteinander« — immer handelt es
sich im Grunde genommen um bloß neue Fassungen des uralten pythagoreischen
Gegensatzes: nepac und anstpoy, und immer wird die Sehnsucht nach dem Unend-
lichen (das freilich selber nicht anders »gefaßt« werden kann als mittels irgendwelcher
»Form« und »durch Form hindurch«) als die »romantische Weltanschauung« be-
zeichnet werden müssen.

Es wäre töricht, diese »Urform« der Romantik, die ja vielleicht den »einen Pol«
aller Kunstgestaltung überhaupt bedeutet, bereits einer Kritik zu unterziehen oder
gar abzulehnen. Die Kritik setzt vielmehr ein gegenüber den eigentlichen »Leistungen«
und muß gipfeln in der Aufdeckung der »Lebensauffassung«, die als eine »Philo-
sophie des Lebens« — die auf eine Vergötterung jenes formfremden »Ansich« (das
doch selber erst als ein aneipoy durch die Form hindurch deutlich gemacht
werden kann!) hinausläuft — letzten Endes aus einer dichterischen »Weltanschau-
ung« entspringt, die ihr Ziel an und für sich mit gutem Recht in einer »Form des
Formlosen«, in einem »Erfassen des Nicht-Erfaßbaren« findet. Hier wendet sich
Tumarkin nun vor allem gegen die Überschätzung des aphoristischen Chaos an
Philosophemen, das die Romantik (und zwar insbesondere die Frühromantik) selber
hervorgebracht hat (S. 29), und sie begründet ihren Standpunkt durch die zentralen
Darlegungen ihres Buches, deren Einzelheiten hier nicht referiert werden sollen.

Ein Abschnitt »Romantische Lebensauffassung. Werte des Lebens« beschließt
sinngemäß die Ausführungen, die in mancher Hinsicht in den von Heinrich Rickert
in seinem Büchlein »Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philo-
sophischen Modeströmungen unserer Zeit« vorgetragenen Gedankengängen eine
Parallele finden. Wer mit Fr. Schlegel den »Sinn für das Chaos außerhalb des
Systemes« hat, der mag immerhin mit einem Aber trotzdem! dieses Chaos zn »er-
leben« versuchen und sich als ein philosophischer Narzissus an der eigenen Lebendig-
keit, die sich in sich selber spiegelt, erfreuen. Wer aber zugleich ein Künstler sein
will und den »Sinn für den Kosmos« hat, der wird mit Gottfried Keller die Götter
um »zierliche Geschirre und um Marmor« bitten, »um zu bauen den festen Damm
zur Rechten und zur Linken«. Vielleicht gelingt es ihm dann, dieses Chaos deutlich
zu machen gerade durch die »Spannung«, mit der es als die lebendige Fülle die
starre Fesselung strafft und als ein unendliches Anderes in dem bestimmten Einen
»gegenständlich« wird! Damit wäre das geleistet, was alle große Kunst geleistet
hat — was die Romantiker leisten wollten und in einer philosophischen Zeit eigent-
lich zum ersten Male als ein abstraktes Wunschbild deutlich zu machen verstanden —
was die ewige Aufgabe ist.

Heidelberg. Hermann Glockner.
 
Annotationen