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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0128
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124 BESPRECHUNGEN.

Stelle und damit in sein verdientes Licht gerückt, und so in die lose, ungeklärte
Fülle Sinn und innerer Zusammenhang gebracht werden kann« (Vorrede IV). Trotz-
dem scheint mir gerade Jost dadurch, daß er über Tieck hinausgeht, die Beant-
wortung der Fragen einzuleiten, die M. Thalmann für Tieck gestellt hat, aber meines
Erachtens nicht ganz überzeugend zu lösen vermochte. Wie das möglich ist —
das möchte ich durch eine vergleichende Besprechung zeigen.

M. Thalmanns Studie ist vorzüglich psychologisch orientiert und wenn auch die
Verfasserin erklärt: »es ist nicht meine Angelegenheit, ein psychopathisches Bild zu
entwerfen« (S. 9), so bleibt es doch letzten Endes immer der »Fall Tieck«, um
den es sich handelt. Das Belegmaterial ist äußerst fleißig aus dem Gesamtwerke
des Dichters zusammengetragen und auch im großen und ganzen recht geschickt
gruppiert — auf die äußere Form der Darstellung dagegen ist leider so gut wie
gar keine Rücksicht genommen. Man kommt aus diesem Grunde über den Eindruck
nicht hinaus, daß hier erst eine Vorarbeit: eine Skizze des Gedankenganges, eine
Sammlung von Belegstellen und eine ungefähre Andeutung der Richtung, in der
die Lösung der Aufgabe zu suchen ist, geleistet wurde — während die eigentliche
Ausarbeitung noch fehlt! Eine in diesem Sinne recht formlose Darstellung von
»Tiecks Verhältnis zur zeitgenössischen Medizin« (S. 11—18) und eine Untersuchung
»Tieck und die Modeliteratur« (S. 74—91) — die sich übrigens etwas besser liest
als die anderen Abschnitte, weil hier nicht bloß Materialien zusammengetragen
werden, sondern weil die Verfasserin aus einer eingehenden Kenntnis des Gegen-
standes heraus wirklich eine ganze Reihe von neuen und interessanten Gesichts-
punkten mitzuteilen hat, die zwischen dem Schundroman des ausgehenden 18. Jahr-
hunderts einerseits und Tieck und seinen Nachfolgern anderseits eine Fülle von Be-
ziehungen sichtbar machen — rahmen das Hauptkapitel ein, das sich dem Titel des
Ganzen entsprechend mit »Tiecks Beziehung zum Schicksalhaften und Dämonischen«
(S. 19—73) beschäftigt. Dieser zentrale Abschnitt hebt damit an, daß die letzte Ab-
sicht der Untersuchung, die (wie es im Vorwort heißt) »als Ansatz zu einer Um-
wertung der dichterischen Persönlichkeit Tiecks« genommen werden möchte, noch
einmal ganz deutlich ausgesprochen wird: »Haym, Garnier, Minor, Steiner und
andere haben durchwegs die These von der Beschränkung der Dämonie
für Tiecks Jugend festgehalten. ... Sie entbehrt jeder Begründung« (S. 19).

Nach einer derartig entschiedenen Absage an die Ergebnisse so historisch
gerichteter Forscher wie Haym und Minor erwartet man natürlich eine neue chro-
nologisch-historische Betrachtung der Tieckschen Werke und eine Heraus-
arbeitung ihres Gehaltes an Dämonie. Eine klare Begriffsbestimmung dessen, was
überhaupt unter »Dämonie« zu verstehen ist, müßte dabei nebenher gehen: das
»Rätselhafte«, das »Wunderbare«, das »Schicksalhafte«, das «Irrationale« müßten an
der Hand von Beispielen analysiert werden; es müßte insbesondere aufgezeigt
werden, welche inneren Momente seiner Entwicklung wohl Tieck dazu getrieben
haben, z. B. den hauptsächlich in der Jugend verwendeten Ausdruck »dämonisch«
später durch »wundersam« zu ersetzen (vgl. Th. S. 28) und den Inhalt beider Worte
schließlich in den Sammelbegriff des »Irrationalen« einmünden zu lassen. Denn
»Irrationales« ist ja sicher auch in seinen späteren »realistischen« Novellen genug
— »Wundersames« (d. h. Märchenhaftes) findet sich dagegen schon weniger in
ihnen — »Dämonisches« (im Sinne der Jugendarbeiten) vielleicht nichts. Aber gleich-
zeitig könnte man unter Umständen zeigen, daß das scheinbar gänzlich Zufällige,
das mit dem Verstand nicht weiter Aufzulösende, das gesetzlose Schalten und Walten
unbekannter, an sich in keine Form eingehender Inhaltsmächte, das auf Schritt und
Tritt unser Leben bestimmt, und das uns wohlbekannt ist als eben jenes »Irratio-
 
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