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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Heinrich, Fritz: Musikalische Elementargefühle und harmonische Gegenständlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0151
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MUSIKAL. ELEMENTAR GEFÜHLE U. HARMON. GEGENSTÄNDLICHKEIT. 147

hin wird der beziehungsvolle Verlauf, in den das Tonstück sie bringt,
zu betrachten und zu fragen sein, was hiermit erreicht wird. Sobald
die Musikästhetik aufhört, sich vor allem auf diese objektiven Ge-
gebenheiten zu stützen, die Fühlung mit den klingenden Tönen und
dem erklingenden Tonwerk verliert, gerät sie meines Erachtens in die
Gefahr, den sicheren Boden unter den Füßen zu verlieren und in
symbolische Deutelei oder metaphysische Verstiegenheit auszuarten.
Allerdings ist das Tonstück ein ästhetischer Gegenstand ganz be-
sonderer Art. Wenn wir ihm diesen Namen geben, so darf nicht
vergessen werden, daß er in der Tonkunst etwas wesentlich anderes
bezeichnet als in den Künsten, die fürs Auge schaffen. Der musikalische
ästhetische Gegenstand existiert ja zunächst nur in der Gestalt eines
verlaufenden Schaffens- oder Nach schaff ensaktes. Sein Dasein ist nur
ein Beginnen, Verlaufen, Verschwinden von Gehörswahrnehmungen,
dem als Eigentümlichkeit die Unaufhaltsamkeit, die Ununterbrechbar-
keit anhaftet.

Dies führt — ohne deren einziger Grund zu sein — zu einer
zweiten Überzeugung. Sie betrifft das musikästhetische Subjekt, unser
ästhetisches Verhalten und unsere ästhetischen Bewußtseinsvorgänge,
während wir in Beziehungen zum Tonwerk treten. Es kommt mir
vor, daß für deren Betrachtung zwar nicht die einzige, aber doch die
beste, die zuverlässigste Erfahrungsgrundlage im musikalischen Re-
produktionsakt zu suchen ist. Ich glaube, daß die Musikästhetik sich
bisher zu wenig um diesen Akt gekümmert hat und gut tut, die Er-
fahrungen heranzuziehen, die der instrumentale Spieler bei der Re-
produktion eines Tonstückes macht1). Daß die ästhetischen Vorgänge
in der Seele des Spielers durch die Leistung der technischen Aus-
führung in einem wesentlich in Betracht kommenden Grade beeinflußt,
gestört oder verdunkelt werden, kann ich nicht zugeben. Natürlich
setze ich volle technische Beherrschung des Tonstückes durch den
Spieler voraus. Man darf wohl den instrumentalen Reproduktionsakt,
abgesehen vom Schaffensakt, die wichtigste musikästhetische Erfahrungs-
grundlage nennen und ihn als solche höher bewerten als den Akt des
Zuhörens, wenn man folgendes bedenkt.

Die Reproduktion des Tonstückes ist eine wesenhafte Eigentüm-
lichkeit der Musik, der sich nichts Gleiches in den anderen Künsten
an die Seite stellen läßt. Das Tonwerk wird — immer vom Schaffens-

>) Dieser Aufsatz beschränkt sich darauf, die Instrumentalmusik, und
von ihr wieder insbesondere die Klaviermusik der Vergangenheit in Betracht zu
ziehen, jener Zeit, die ich kurz als die Epoche Bach-Brahms bezeichnen will. Die
Komponisten, an die ich hier denke, sind also vornehmlich Bach, Mozart, Beethoven,
Schubert, Mendelssohn, Chopin, Schumann und Brahms.
 
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