Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

DOI Artikel:
Bukofzer, Max: Vom Wesen des inneren Mitsingens
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0179
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BEMERKUNGEN. ] 75

können, als Grundlage der Fähigkeit, ein vernommenes Klanggebilde relativ nach-
zuschaffen. Sie muß allen Beschaffenheiten des musikalischen Objektes gerecht
werden, damit es vom Hörer gleichsam als eigenes Produkt (E. 26, 29, 36), dem
schaffenden Künstler relativ kongenial, nacherlebt werden kann, d.h. seine eigene
in klanglich-rhythmische Erscheinung getretene Gemütsbewegung werde (E. 26, 36;
J. 207, 209 ff., 221). Nur ein solches restloses künstlerisches Erleben kann in Be-
tracht gezogen werden, wenn man vom musikalischen Genüsse sprechen will, nicht
ein bei halber oder noch weit geringerer Beteiligung auftretendes, nur nehmendes
und nichts gebendes Genießen, welches anderen Künsten Genüge tun mag. Denn
der Musik wohnt abweichend von anderen Künsten eine während ihrer ganzen Dauer
wirksam bleibende, gegenwärtig von ihr ausgehende und unmittelbar treibende
Kraft inne, die den Musikalischen ergreift, seine aktive Beteiligung weckt und sie
ihm zur wirksamsten aller Künste macht (E. 37, 38). Wie dieser oder jener halb-
musikalische, unmusikalische oder lediglich akustisch begabte Mensch (E. 6, 7;
J- 214) die Musik genießt, was er ihr entnimmt, von welcher Seite her er ihr bei-
zukommen sucht usw., das sind höchst interessante und wichtige Fragen, die ich
an anderer Stelle einmal zu behandeln die Absicht habe, welche uns aber hier nichts
angehen.

Die endotaktile Gehörsinterpretation ist ein Bestandteil des ästhetischen Ver-
haltens des musikalischen Hörers. Fraglos ist die Annahme von Groos, Bärwald u. a.
richtig, daß nur im motorisch veranlagten Menschen beim aufmerksamen Hören re-
lativ nachschaffende Spannungstendenzen und Spannungen, ja auch selbst im ganzen
Körper Bewegungstendenzen und Bewegungen auftreten, die den Einwirkungen
des vernommenen Klanggebildes beigeordnet sind (E. 31, 32; J. 212—213). Nach
meiner Meinung (E. 40; J. 192—194, 199, 200, 208, 219, 221) sind sie sogar der Ge-
mütsbewegung nicht nur beigeordnet, sondern gehören sie ihr, als einem seelisch-
körperlichen Komplexe, unabtrennbar an. Nun ist aber die Musik keineswegs eine
nur klangliche (auditive), sondern zugleich eine in hohem Grade rhythmische (mo-
torische) Kunst (E. 32, 33, 36). Obenein besteht, wie schon Charcot und später
Feuchtwanger gezeigt haben, auch im allgemeinen, also nicht etwa nur in der Musik,
ein enger psychologischer Zusammenhang des Auditiven mit dem Motorischen. Und
so muß der musikalische Mensch genau ebenso unbedingt dem auditiv-motori-
schen Sinnestyp zugerechnet werden, wie der feinsinnige Maler und Bildhauerund
der von ihrer Kunst in gleicher Weise tief ergriffene Mensch unbedingt dem vi-
suellen, aber — nach den ausgezeichneten Arbeiten von Wickhoff, Riegl und Wölff-
lin — zugleich auch dem taktilen (haptischen) Sinnestyp, dem Tasttyp, angehören
muß (E. 9, 10). In der fünften römischen Elegie (1789, nach der italienischen Reise
entstanden) schildert Goethe das visuelle Tasten und das haptische Sehen in schalk-
haftem Zusammenhange, nämlich auf Faustina (= Christiane) bezogen:

»Und belehr' ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens

Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?

Dann versteh' ich den Marmor erst recht; ich denk' und vergleiche,

Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand«.
Neulich aber fand ich zu meinem nicht geringen Staunen bei ihm (Entwurf einer
Arbeit: »Zur Tonlehre«) folgendes:

»Empfänglichkeit des Ohres ... Nur der Teil eines Sinnes ... Doch ist
bei dem Ohre die Leitung noch immer besonders zu betrachten« ... Die »Leitung«;
nämlich vom auditiven auf motorisches Gebiet; denn es heißt weiter: »Die Pro-
duktivität der Stimme wird dadurch geweckt, angeregt, erhöht und
vermannigfaltigt. Der ganze Körper wird angeregt«. Hatte Goethe
 
Annotationen