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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0187
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BESPRECHUNGEN. 183

Technik noch nicht gelöste Problem der Form hinwies, durch das die Technik erst
geformt werden muß zu einem Stil. Haben wir nun heute einen echten Stil? Utitz
unterscheidet mit Recht: wir haben einen Stil der Arbeit, aber noch keinen Stil
ruhiger Festlichkeit. Zu einem einheitlichen das ganze Leben in Arbeit und Ruhe
gestaltenden Lebensstil kommen wir aber nicht durch ein Zurückgehen hinter die
Industrialisierung, sondern nur durch weitere Steigerung der Technik, zur ausschließ-
lichen Qualitätsarbeit und durch Befreiung des Menschen von der Maschine durch
die Technik selbst, in Verbindung mit einer Lebensgestaltung, die etwa durch Boden-
reform Eigenleben ermöglicht, das Eigenrecht der Persönlichkeit aber doch dem
Gesamtplan unterordnet und besonders — einen Hauptnachdruck legt Utitz auf
diesen tiefsten Punkt — in geduldig fortschreitender Arbeit das Formgefühl jedes
Menschen zu erziehen sucht, nicht durch historisches Wissen, sondern in der schlichten
Art eines Avenarius, Muthesius, Lichtwark. Auch der Künstler selbst findet dann
als Mensch unter Menschen auf Grund werkgerechter Arbeit seinen eigenen Stil.
Gleichen Wandel zeigt die Wortkunst. Mächtig schwillt zur Zeit des Naturalismus
als die ihm adäquateste Dichtung der Roman an, in wissenschaftlichem Wahrheits-
streben, zwar von Ethos durchpulst, aber einem Ethos naturwissenschaftlichen
Lebensgefühls, und desgleichen gibt sich das Drama als der auf die Bühne ver-
pflanzte Roman, analytisch charakterisierend. Doch das nur Naturalistische reicht
nicht aus; Ibsens Leitmotive und Symbole liegen schon jenseits der Wirklichkeit und
ebenso der immer mehr verfeinerte Dialog. So wird Wirklichkeitstreue nur noch
Mittel im Dienst künstlerischen Eigengesetzes, wie es am reinsten lebt in der Lyrik
Stefan Georges, der treffend mit Marees verglichen wird. Hier ist alles Formung
auf sinnliche Erkenntnis, reine Anschauung, zufallsfreie Gesetzlichkeit. Ebenso wird
der Naturalismus verlassen in Maeterlinks Gefühlssymbolik, in der letzten Szene
von »Frühlings Erwachen«, in Strindbergs »Totentanz«: alles Sinnliche ist Verkörpe-
rung eines Geistigen, das als religiöses Ringen und Glaubenssehnsucht in ver-
schiedenster Gestaltung auch bei Hauptmann, Rilke, Werfel zum Ausdruck kommt,
bis die neueste Dichtung alle individuelle Charakterisierung und alles natürliche
Geschehen nicht einmal mehr als Mittel anerkennt und selbst die Sprache auflöst
in konventionsfreie Worte, um nur noch Symbole oder Phantastik zu geben — so-
weit bei ernster Durchführung dieses Extrems die Kunst sich nicht selbst unmöglich
macht. Der Entwicklung der Kunst zum Ausdruck des Geistigen folgt in ihrer
Weise die Bühne über Brahm zu Reinhardt. Die Musik hat Utitz nur gestreift, weil
sie, am meisten von der Zeit gelöst, am wenigsten geeignet sei, über die Kultur-
tendenzen einer Zeit Auskunft zu geben. Diese Begründung dürfte sich wohl be-
streiten lassen, so unmöglich auch anderseits tatsächlich die Entscheidung sein mag,
ob wir heute auf dem Weg zu einem echten, eigenen musikalischen Stil sind. Eben
weil die Musik am wenigsten voraussetzt im stofflichen Sinne und deshalb am
meisten zeitgelöst und unvergänglich ist, zeigt gerade sie am reinsten in ihrer indi-
viduellen Form, die auf der immanenten Logik identischer musikalischer Gesetzlich-
keit ruht, restlos künstlerisch ausgeprägt zwar nicht allerhand Zeittendenzen, dafür
aber gerade den innersten geistigen Rhythmus und Lebensstil einer Zeit. Nur kurz
kann hier angedeutet werden, wie nun das in dem Kunstwandel verfolgte Grund-
thema auf allen übrigen Lebensgebieten in reichster Anschaulichkeit nachgewiesen
wird. Die Erziehung strebt über Psychologisierung und Test hinaus zum Vollmenschen,
die Wissenschaft sieht sich überall immanent zur Synthese geführt, Kapitalismus
und Sozialismus dringen hinaus über das nur Wirtschaftliche, das Recht befreit sich
von darwinistischem Determinismus zu philosophischer Ethik, die Religion, oft auf Ab-
wegen zum Okkulten, wird eine Lebensmacht, in der Wirtschaft wird der Taylorismus
 
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