Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0191
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN. 187

ristheorie begründeten Unterscheidung einer dreifachen Raumanschauung und räum-
lichen Gestaltung innerhalb des gesamten Kunstschaffens: der flächenhaften (male-
rischen), der körperbildenden (plastischen) und der eigentlichen (baukünstlerischen)
Raumgestalt. Aus der Art der Verknüpfung dieser Grundkräfte zum Aufbau der Form
glaubt er die wesenhaften Merkmale entnehmen zu können, welche unter dem Ein-
fluß der gleichen geistigen Triebkräfte der Zeitstimmung den allgemeinen Stilwillen
eines Zeitalters bestimmen. Damit nimmt er auch — anscheinend unbewußt und
ohne es auszusprechen — gewissermaßen den Schmarsowschen Grundbegriff der
Hegemonie (der Einzelkünste) auf. Daß er gerade für das Verständnis der mittel-
alterlichen Kunstentwicklung eine sehr fruchtbare Anwendung zuläßt, hat F. Knapps
»Künstlerische Kultur des Abendlandes« (Bd. I) noch kürzlich bestätigt'). Die Frage
ist nur, ob diese Gesichtspunkte schon ausreichen, um ihre innere Einheit zu er-
weisen. Vielleicht —, wenn wir im Sinne Lüthgens alle Kunstentwicklung nur als eine
Wellenbewegung auffassen, die auf dem Wechsel der Formgesinnung in der Ab-
folge der Zeitstile beruht—, nicht aber, wenn wir als ihre Grundvoraussetzung den
Nachweis der Entfaltung einer zusammenhängenden psychogenetischen Gesetzmäßig-
keit innerhalb ihres kunstgeschichtlichen Zusammenhanges fordern. Und eine solche
innere Gesetzmäßigkeit der Entwicklung glaubt doch auch Lüthgen anerkennen zu
müssen: sie führe überall zur Auflösung der ruhenden Form in eine malerische Be-
wegtheit. Allein diese Formel ist doch zu eng, als daß sich mit ihrer Hilfe die Ge-
samtentwickiung erklären ließe. Sie gilt nur für die Zweckkünste, auf die sie auch
bei ihrer Aufstellung durch Cohn-Wiener2) vorzugsweise bezogen worden ist und
bezeichnet dort mehr den periodischen Stilwandel vom Monumentalen zum Orna-
mentalen. In der nachchristlichen abendländischen Kunstentwicklung findet sie denn
auch für Baukunst und Dekoration eine zweimalige Erfüllung, zuerst von der Aus-
bildung des romanischen bis zu der des spätgotischen Stils und dann von der Re-
naissance bis zum Rokoko. Die bildenden Künste aber empfangen zwar einerseits
ihr Stilgesetz von der gleichzeitigen Architektur, sie erheben sich ja, wie Wundt mit
Recht behauptet3), erst durch die Verbindung mit ihr zur Idealkunst, und bleiben
während des Mittelalters auch an sie gebunden. Darin hält Lüthgen mit Recht wieder
an Schmarsows These fest. Gleichwohl besitzen sie ihre Eigengesetzlichkeit''), die
auch Schmarsow niemals bestritten oder angezweifelt hat. Die erfüllt sich, wie
ich gezeigt zu haben glaube, unter beständiger Wechselwirkung von Plastik und
Malerei (bzw. Zeichnung) derart, daß in beiden Künsten zuerst die volle plastische,
dann erst die malerische Illusionswirkung erreicht wird. Dieser psychogenetische
Ablauf ist nun in der Tat in der abendländischen Kunst vom frühen Mittelalter bis
zum Rokoko ein ebenso einheitlicher wie in der Antike, mit dem Unterschiede, daß

') Daß hier die infolge gesundheitlicher Behinderung über Gebühr verzögerte
Besprechung des ersten der beiden obenstehenden Werke mit der des unlängst er-
schienenen zweiten verknüpft wird, hat seine guten Gründe. Sie haben nicht nur
einen beträchtlichen Teil des behandelten Stoffes gemein, sondern ergänzen ein-
ander auch in der Zielsetzung und den Gesichtspunkten der Behandlung.

2) E. Cohn-Wiener, Die Entwicklungsgesch. d. Stile in d. bild. Kunst. Leipzig,
1910, I, S. 3 u. 37 u. a. m.

») W. Wundt, Völkerpsychologie. 3. Aufl. Leipzig 1913, III. Bd. S. 129 ff. u.
289 ff.

<) Vgl. O. Wulff, Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten.
Kongr. f. Ästhetik u. allgem. Kunstwissenschaft. Berlin, 7.-9. Okt. 1913. Bericht.
Stuttgart 1914, S. 330 ff.
 
Annotationen