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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Schmarsow, August: Die reine Form in der Ornamentik aller Künste, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0215
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DIE REINE FORM IN DER ORNAMENTIK ALLER KÜNSTE. 211

Menschenkörpers ohne Verzierung die Aufgabe der Darstellung dieses
Körperwertes und seines seelischen Inhalts. Mit der schamhaften Ver-
hüllung der Geschlechtsteile beginnt bereits die Bekleidung, die zugleich
die Funktion der Ornamentik übernehmen kann, oder richtiger: über-
nehmen muß, weil sie den Hauptwert umgibt und begleitet, weil sie
Gestalt und Haltung jedes Teiles, den sie einschließt, zunächst nur in
einem weiteren Umriß wiederholt, bestätigt und hervorhebt, ihn — im
Unterschied vom Nackten sonst — der Aufmerksamkeit, durch die Ab-
wechslung des Eindruckes schon, wieder nahebringt, oder als Licht-
fänger gar vorweg das Auge lockt. Als größere Fläche, die sich mit
Faltenzügen vor die Teilgliederung (etwa des Bauches) legt, faßt die
Gewandung eine ausgebreitete Vielheit von Einzelformen zur ruhigeren
Masse, zur einheitlichen Wirkung zusammen, und verdeckt die sicht-
baren Hinweise auf die Ernährung des Organismus, die schon im Sinne
der Verewigungskunst, in hartem Stein, in haltbarem Holz oder in
gegossener Bronze, der Wandelbarkeit des Fleisches widersprechen
und doch nur soweit ausgeschaltet werden dürfen, als die Wachstums-
einheit des natürlichen Geschöpfes nicht darunter verloren geht. Eine
solche Verhüllung einzelner Organwerte begünstigt und betont die
Werte anderer, etwa die der aktiven Glieder, der Tätigkeit oder des
Ausdrucks, oder legt sich als Folie unter die Hauptträger des geistigen
Lebens, ja sie ermöglicht als Sammeleinheit der notwendigen, aber
nicht mehr in Betracht kommenden physischen Voraussetzungen, erst
die freie Entfaltung der ethischen oder intellektuellen Werte, die sieg-
reiche Betonung menschlicher Willensenergie in ihrer Überlegenheit
über die Dumpfheit oder Schwäche der Kreatur. So wird die Ge-
wandung zu einem negativen wie zu einem positiven Faktor der Kom-
position des Kunstwerkes selbst, zu einem integrierenden Bestandteil
seiner Ausdrucksgestaltung. Und erst die Möglichkeiten freierer und
beliebiger Verwendung der »Draperie«, die darüber hinaus liegen, er-
öffnen auch der Ornamentik im Gewände einen Spielraum, wo sie ihr
Wesen als Wertbezeichnung und Vermittlerin der Wertgefühle im einzel-
nen betätigen kann. Dahin entfällt schon jeder Gewandzipfel, jede
Falte im Stoff, die über die Körperform darunter hinausgleitet und des-
halb nicht mehr durch den Körperwert der Menschengestalt allein,
sondern zum Teil schon durch die Natur des Bekleidungsmaterials,
die Dünnigkeit oder Dicke des Gewebes, die Weichheit oder Härte
der Fäden bestimmt wird. Zum anderen Teil freilich bleibt diese Falte
bedingt durch die Form des Gliedes, von dem sie ausläuft, von der
Haltung oder Bewegung desselben, von dessen Umriß sie sich ablöst;
sie bleibt als Bewegungslinie selbst sozusagen dessen sichtbar ge-
wordener Ausklang, und deshalb noch ein berechtigtes Element im
 
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