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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0290
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286 BESPRECHUNGEN.

Vielleicht bietet ihm der zweite Teil, der den »Versuch einer Typologie der
Romanform« verspricht, was ihm der erste, geschichtsphilosophisch-prinzipielle Ab-
schnitt schuldig geblieben war!

Allein: was für ein seltsames Bild erhalten wir da von der Entwicklung der
Romantypen! Zwar der Anfang — die gesamten Ausführungen über Cervantes —
ist in der Tat ganz ausgezeichnet! Lukäcs faßt natürlich den Don Quixote als
Roman auf (eine rein-ästhetische Untersuchung, die mit einer Strukturanalyse des
Romans Ernst macht, muß, wie ich noch einmal zu zeigen hoffe, widersprechen
und wird im Don Quixote eine zu einem Zyklus von Abenteuern erweiterte Novelle
erkennen!) und findet das, was er sehr gut als den »ersten Fall« einer möglichen
Unangemessenheit von Ich und Welt, »von Seele und Werk, von Innerlichkeit und
Abenteuer« (S. 95) bezeichnet, in dem großen Werk des Cervantes aufs vollendetste
zur Darstellung gebracht: die Seele des Romanhelden ist enger als die Welt, in der
er sich bewegt. Lukäcs nennt diese »Dämonie der Verengerung der Seele« die
»Dämonie des abstrakten Idealismus« (S. 95). Im Roman des 19. Jahrhunderts findet
er den »zweiten Fall« einer Seele-Wirklichkeitsbeziehung, der dem »abstrakten Idea-
lismus« genau entgegengesetzt ist: »die Unangemessenheit, die daraus entsteht, daß
die Seele breiter und weiter angelegt ist als die Schicksale, die ihr das Leben zu
bieten vermag« (S. 116). In der Tat tritt in beiden Fällen die Ironie als eine Art
konstitutiver Faktor in Kraft. Aber — ist mit den beiden Typen des abstrakt-idea-
listischen und des illusionistischen Romans und einer möglichen Synthese aus beiden,
für die Wilhelm Meister in Anspruch genommen wird, die Typologie der Roman-
form wirklich abgeschlossen? Wie wäre z. B. Dickens einzureihen? OderManzoni?
Oder Anton Reiser? Was soll man überhaupt zu einem Buch über den Roman
sagen, in dem Gottfried Keller nur einmal (S. 147) im Vorbeigehen flüchtig erwähnt
wird?! In dem die Romane der deutschen Romantik und Jean Pauls so gut wie
keine, die des Jungen Deutschlands, Immermann, Mörikes Maler Nolten, Walter
Scott und seine deutschen Nachfolger, Reuter, Ludwig, Raabe, Heyse ganz und gar
keine Berücksichtigung finden und — der Natur der Sache nach keine Berücksich-
tigung finden können? Ich dächte: an den Verlobten oder am Grünen Heinrich
wäre für eine Formanalyse des Romans (was Lukäcs in dieser Hinsicht vorzutragen
hat, ist ja überhaupt nicht erheblich; das Beste steht noch etwa auf S. 136 ff.) doch
einiges zu lernen gewesen, was über die geschichtsphilosophische Konstruktion
hinausgeführt und eben dadurch gerade den spezifischen Wert dieses Gesichtspunktes,
den ich durchaus nicht leugnen will, durch eine deutliche Abgrenzung in ein be-
stimmteres Licht gesetzt hätte! Aber ich rühre damit zugleich an das Grund-
gebrechen des Buches!

Eine ungeheure Überschätzung der französischen und insbesondere der russi-
schen Romanliteratur bestimmt den Standpunkt des Verfassers! Sein nicht zu leug-
nendes Ästhetentum verfeinert sich letzten Endes zu einer romantisch-religiösen
Sehnsucht, die von einer fremden, an den betäubenden Duft östlicher Gewächse
gemahnenden Schwere ist, und die sich sehr unterscheidet von dem heiligen Heim-
weh unseres deutschen Novalis. Ich möchte Lukäcs mit Tolstojs Lewin (in Anna
Karenina) vergleichen — aber soll dieser Typus des in geschichtsphilosophischen
Grübeleien versunkenen, von einer unheimlichen, verzweifelten und im Schiffbruch
errungenen Gläubigkeit getragenen, zu utopischen Phantasien von seligen Zeitaltern
neigenden Halborientalen wirklich Macht bekommen über die Enkel Schillers und
Humboldts? Es wäre schade für unsere Wissenschaft, schade für unsere Kunst 1

Heidelberg.

Hermann Glockner.
 
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