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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0306
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302 BESPRECHUNGEN.

nur aus der Fülle dichterischer Intuition ganz zu verwirklichen«, so finden wir bei
dem Vorkämpfer der heutigen Bewegung, bei Jhering, fast die gleichen Worte, etwa
wenn er sagt: »Nichts hat in der Ästhetik der Schauspielkunst größere Verwirrung
angerichtet, als das Wort psychologisch« usf.

Weniger als bei Rötscher aus einer philosophischen Grundidee heraus, vielmehr
in kleinen essayistischen Skizzen entwickelt Jhering seine Stellung zum heutigen
Theater. Solange Jhering das Schlappe, Wachsweiche im Theater bekämpft, mag
man ihm unbedenklich folgen. Aber man muß sich von ihm trennen, wenn ihn
seine erfreuliche Kampfbegeisterung ungerecht werden läßt.

Jede Zeit hat ihre Ausdrucksformen und die Damenmode von 1900 hat nicht
weniger Recht als die von 1922. Das Theater einer psychologisch-materialistisch
gerichteten Zeit mußte naturalistisch sein; solange es in der Darstellung gespannt
war und energiegeladen hatte es recht. Der Ausdruck der Bühne bleibt in steter
Beziehung zu der tatsächlichen geistigen Haltung der Besten. Das Theater von
gestern — und das sieht Jhering nicht — war nicht schlechter als das Theater von
heute. Nur der Schauspieler mit den Manieren von gestern läuft leer auf der heu-
tigen Bühne. Denn es ist klar, daß, wer nicht die Spannung seiner Zeit hat, seiner
Zeit auch nichts geben kann. Aber umgekehrt ist der Versuch, diese Spannung vor-
zutäuschen, die größte derzeitige Gefahr für die Darstellungskunst. Ein dreifacher
Irrtum macht sich im Theater breit. Wie im Drama der Aktivismus, wie im Theater-
raumproblem der aufdringlich banale Versuch der direkten Wirkung, so greift in der
Schauspielkunst eine wüste Meiningerei Platz. Die auch von Jhering vielgepriesene
Aufführung der Tollerschen Wandlung in der Tribüne war der dies ater der mo-
dernen Schauspielkunst. Hier zum erstenmal — mit voller Vehemenz — wurde über-
redet, statt überzeugt; hier wurde gepredigt, statt gestaltet, deklamiert, statt gespielt;
hier spielte man so: Mensch erzittere, oder ich schlage dir auf den Schädel. Hier
stand, bei angeblichem Verzicht auf die Dekoration, das aufdringlich schiefe Fenster.
Hier erklang der übertriebene Rhythmus, der über die Sprachmelodie den Sinn unter-
gehen ließ. Hier war die Vorstufe zur anspruchsvollen Phantasielosigkeit der Treppe,
zur proletisch-leitmotivischen Lichtbehandlung, zum Verzicht auf das Requisit, das in
seiner letzten Konsequenz folgerichtig auf den Verzicht des Kostüms führen mußte.

Jhering verkennt die Gefahren der Richtung, die er fördert.

Was hat diese Richtung tatsächlich schauspielerisch-schöpferisch geleistet? Sehr
wenig. Sie hat im Gegenteil deklamatorisch eingeebnet, statt individuell herausgehoben.
Sie zerstört Talente, statt sie aufzubauen. Bei allem Gefühl für Tempo und Rhythmus
hat sie weder Ohr für Eigentöne noch ein fühlendes Herz. Sie setzt die akustische Er-
schütterung an Stelle der seelischen, sie gibt den Motor, statt der Wirkung des Motors.
Dieser Mangel an Herz läßt die begabtesten Frauen an diesem Theater umkommen
und es ist kein Zufall, wenn Jhering eine hervorragende Künstlerin außerhalb seiner
systematischen Betrachtung stellen muß. Das neue Theater hat einen Rhythmus.

Der von Jhering so angegriffene Reinhardt hat hundert Rhythmen. Er hat den
jeweiligen Rhythmus des Werks. Wer außer ihm konnte die verstaubte »Stella« so
auferstehen lassen? Hatte sie nicht eine unvergeßliche Melodie? Sein Rhythmus
hat Phantasie; sein Tempo hat Herz. Wenn Jhering vom Regisseur spricht, ver-
nachlässigt er seine hauptsächlichste Aufgabe: Die Auffindung und Entfaltung des
Schauspiels. Wer hat denn »einen Schauspieler wie Rudolf Förster auf Verschärfung
und Kampf gestellt, statt ihn zu lösen und zu vereinfachen«? Wenn einer gelöst
hat, war es Reinhardt; er hat viele Melodien den Schauspielern entlockt. Wer hätte
unter Verzicht auf das Requisit, so viel aktuelle Spannung einem Werk wie »Kräfte«
von Stramm verleihen können, wie es Reinhardt vor zwölf Monaten vermochte?
 
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