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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Leich, Walther: Heines Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0416
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412 BEMERKUNGEN.

Zweck abgeleitet ist, als allgemein gültiger Maßstab der Beurteilung zu dienen1).
Nicht der Betrachter hat Forderungen zu stellen; über ihm steht der Künstler und
seine Schöpfung, die den berechtigten Anspruch erheben, daß wir uns willig in ihren
Bann schlagen lassen. Ein auf ästhetische Regeln begründetes Schaffen würde seinen
Ausgangspunkt in erster Linie von dem Verstand hernehmen, während die Haupt-
triebkraft des Künstlers sein vom heiligen Weltgeist bewegtes Gemüt ist, dem die
Phantasie ihre schönsten Blumen zuwirft. Daher will auch ein echtes Kunstwerk vor
allem mit dem Gemüt aufgenommen werden. Der Verstand spielt bei der künstleri-
schen Tätigkeit nur eine untergeordnete Rolle; er ist die Polizei im Reiche der Kunst.
Die Vorschriften der Kunstphilosophen taugen allenfalls für Nachahmer, also für
Geister, die letzten Endes unschöpferisch sind. Jeder Originalkünstler und gar jedes
neue Kunstgenie muß nach seiner eigenen, mitgebrachten Ästhetik, jeder Genius nach
dem, was er selbst will, beurteilt werden. Die Mittel der Darstellung, bei dem Maler
Farbe und Form, sind jedoch nur Symbole, durch die der Künstler anderen seine
eigene Idee mitteilt. Diese Symbole muß der Künstler nicht notwendigerweise aus
der Natur nehmen2), da Kunst nicht lediglich in der Nachahmung der Natur besteht;
die bedeutendsten Typen sind ihm eingeboren, so daß er märchentreu und ganz nach
innerer Traumanschauung malen darf. Verlangt also Heine von dem Betrachter Ein-
fühlung in das Kunstwollen im weitesten Sinne, in die Idee und in die Symbole der
Idee, so spricht er ihm doch das Recht der Kritik nicht völlig ab. Diese hat aber nur
die Fragen zu erörtern, ob der Künstler die Mittel zur Gestaltung seiner Idee besitzt
und ob er sie richtig angewandt hat.

Die letzten Folgerungen, wie sie ein auf Ahnensuche ausgehender Expressionist
aus diesen der Kürze halber nur in Stichworten wiedergebenen Darlegungen (Ge-
mäldeausstellung 1831 Decamps) ziehen würde, liegen nun freilich nicht im Sinne
Heines. Er ist weit davon entfernt, dem Willen des Künstlers eine unbeschränkte
Gewalt einzuräumen, das Kunstwollen in ungebundene Willkür ausarten zu lassen,
die den Tageslaunen oder den Grillen des eigenen müßigen Herzens entsprungen
ist. Die Gemäldeausstellung 1831 hat ihn belehrt, daß das Streben nach Eigentüm-
lichkeit, das Überwiegen des Interessanten unter Vermeidung des Leeren und Lang-
weiligen, wodurch die Romantiker ihren Gegensatz zu der klassischen Objektivität
der Antike kennzeichneten, zu einem wirren Durcheinander führen muß. Aber auch
hier kann er eine subjektive Ästhetik als Gegengewicht gegen die Losung der Ro-
mantiker nicht gebrauchen. Ein liebevolles Sich-Versenken in die Kunstperioden frü-
herer Zeiten führt ihn zu dem Satz, daß die Künstler, wie z. B. auch die Dichter3),
Deuter des Zeitgeistes sind, ihre Werke ein Spiegel des Lebens. Dieser Gedanke
gestattet ihm eine umfassende Einfühlung in die Kunst aller Zeiten, so daß bei ihm
auch in ihren Zielen entgegengesetzte Kunstepochen, wie die lebensbejahende Kunst
der Antike und die weltverneinende, übersinnliche Gotik, das graziöse, leichtsinnige
Rokoko und der ernste, tugendhafte Klassizismus eine verständnisvolle Würdigung

') Für Dichtwerke stellte Schiller denselben Grundsatz auf (Über naive und sen-
timentalische Dichtung): »Man hätte deswegen alte und moderne — naive und sen-
timentalische — Dichter entweder gar nicht oder nur unter einem gemeinschaftlichen
höheren Begriff.. . miteinander vergleichen sollen. Denn freilich, wenn man den
Gattungsbegriff der Poesie zuvor einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so
ist nichts leichter, aber auch nichts trivialer als die modernen gegen sie herabzusetzen.«

2) Vgl. Schelling »Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur«: »Kunst
muß, um wahrhaft Kunst zu sein, sich von der Natur so weit wie möglich entfernen«.

3) Daher nennt er das Nibelungenlied einen versifizierten Dom und den Kölner
Dom ein steinernes Nibelungenlied (Über Polen).
 
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