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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Leich, Walther: Heines Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0418
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414 BEMERKUNGEN.

Zeit«, so sagt er bei der Besichtigung der Kathedrale zu Amiens (Über die franzö-
sische Bühne, 9. Brief), »hatten Überzeugungen, wir moderne Menschen haben nur
Meinungen,, und es gehört etwas mehr als eine bloße Meinung dazu, um so einen
gotischen Dom aufzurichten«. Wenn aber ein Künstler glaubt, in seinem Denken und
Empfinden auf der Stufe mittelalterlicher Geistigkeit zu stehen, so sind das nur Ge-
fühlsplagiate, Gefühlsfaseleien. Die Kunst darf nicht mit welken Überresten der Ver-
gangenheit im unerquicklichsten Widerspruch mit der Gegenwart stehen1). Aus dem-
selben Grunde hegt er auch eine Abneigung gegen das Theätre Frangais, wo noch
die Gespenster der alten Tragödie mit Dolch und Giftbecher in den bleichen Händen
spuken, wo der Puder der klassischen Perücken stäubt, wo die Tragödiendichter,
emanzipierte Sklaven, die alte klassische Kette mit sich herumschleppen (Über die
französische Bühne, 6. Brief).

Ebenso hart wie die neugotischen Baumeister tadelt er die gotischen Abge-
schmacktheiten romantischer Maler, die in der Art altdeutscher Meister malen. Denn
die Kunst des Mittelalters ist von Voraussetzungen her zu verstehen, die uns jetzt
fremdartig anmuten, die in einer inzwischen völlig veränderten Zeit nicht mehr die
Grundlagen neuen Kunstschaffens sein können. Das Mittelalter ist beherrscht von
dem kirchlichen Spiritualismus, d. h. nach Heine von einer Denkweise, die die Materie
zu zerstören strebt. Daher zeigen die altdeutschen Kunstwerke2) »die Bewältigung
der Materie durch den Geist, und das ist oft sogar ihre ganze Aufgabe«. »Man fühlt
die Gewalt jener Zeit, die selbst den Stein so zu bewältigen wußte, daß er fast ge-
spenstisch durchgeistigt erscheint, daß sogar die härteste Materie den christlichen
Spiritualismus ausspricht«. An den gotischen Domen ist alles steinerne Symbolik.
»Mit den kolossalen Pfeilern strebt der Geist in die Höhe, sich schmerzlich losreißend
von dem Leib, der wie ein müdes Gewand zu Boden sinkt«. »Erhebung des Geistes
und Zertretung des Fleisches« ist der Gesamteindruck. Nicht nur in der »felsentür-
menden Riesenkraft«3), auch in der »unermüdlich schnitzelnden Zwergsgeduld«3) wirkt
sich der ins Absolute strebende Sinn der Gotik aus. Die luftigen, feinen, von Heine
mit Brabanter Spitzen verglichenen Zierate der Dome zeigen, wie nachdrücklich der
Spiritualismus den Stein zu entmaterialisieren wußte. Auch für die Zwitterhaftigkeit
der bildenden gotischen Kunst findet Heine die richtige Erklärung. Da die mittel-
alterlichen Meister auf die Formen der sichtbaren Welt, auf die »Materie« als Mittel
ihres Schaffens angewiesen waren und trotzdem den Sieg des Geistes über die Ma-
terie darzustellen hatten, waren sie vor eine unnatürliche Aufgabe gestellt. »Daher
das Mystische, Rätselhafte, Wunderbare und Überschwängliche in den Kunstwerken
des Mittelalters; die Phantasie macht ihre entsetzlichsten Anstrengungen, das Rein-
geistige durch sinnliche Bilder darzustellen und sie erfindet die kolossalsten Toll-
heiten, sie stülpt den Pelion auf den Ossa, den Parzival auf den Titurel, um den
Himmel zu erreichen«. »Daher jene verzerrten Bildwerke, wo durch schieffromme
Köpfe, lange dünne Arme, magere Beine und ängstlich unbeholfene Gewänder die
christliche Abstinenz und Entsinnlichung dargestellt werden soll«.

Die angeführten Stellen zeigen, daß Heine auf der Grundlage des Kunstwollens
die wesentlichsten Merkmale der Gotik, ihre Übersinnlichkeit im Größten und Klein-
sten, ihre innere Zwiespältigkeit, die krampfartige Spannung, die das seelische Drängen

') So fordert auch Schiller, daß man nicht nur Staatsbürger, sondern auch Zeit-
bürger sein soll (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief). Goethe nennt
die Sucht, ganze Zimmer in altdeutscher und gotischer Art einzurichten, »Maskerade«
(Gespräche mit Eckermann, 17. Januar 1827).

2) Vgl. zu diesen und den folgenden Stellen »Die romantische Schule« 1833.

s) »Über die französische Bühne«, 9. Brief.
 
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