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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0421
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BESPRECHUNGEN. 411

Ludwig Marcuse, Strindberg. Das Leben der tragischen Seele. Berlin, Franz
Schneider Verlag (1922).

Dem Verfasser des durchaus beachtenswerten Buches erscheint, wenn ich mich
nicht täusche, Strindberg unter drei Gesichtspunkten: als Individuum, als Vertreter
der »tragischen Seele« und als Sinnbild unseres gegenwärtigen geistigen Lebens.
Diese Gesichtspunkte gehören folgendermaßen zusammen. Der geistige Einzelmensch
hat stets die Richtung zu einem bestimmt geprägten Typus, oder, wie es Marcuse
in seiner Weise ausdrückt: »Die Individualität ist eine qualitativ adäquate, wenn
auch selbstverständlich quantitativ nur partielle Konkretisierung des individuellen
Typus.« Strindberg, der Mensch, Gottsucher, Denker, Politiker, Künstler weist auf
die »tragische« Urgestalt der Seele, diese aber, mit ihrer Entselbstung und Unend-
lichkeitsweitung ist die Seele unserer Zeit. Der tragische Mensch hat nicht wie der
gläubige den Sinn der Welt im sicheren Besitz, und genießt nicht wie der ungläu-
bige die Täuschung der eigenen Göttlichkeit; seine Seele ist zerspalten und viel-
fältig. Wenden wir das auf Strindberg an, so verstehen wir die Zerrissenheit seines
Wesens bis zu einer gewissen Grenze. Aber doch nicht völlig. Marcuse macht es
sich etwas zu leicht, indem er von »polaren Tendenzen« redet und das Gegensätz-
liche hart nebeneinander setzt. Er nennt den Dichter wirklichkeitsblind und einen
Realisten, fromm und ketzerisch, Mönch und Satyr, empfindlich und gewaltsam; die
Kennzeichnung »undogmatischer Dogmatiker« findet sich und gewinnt einen Nach-
hall in der Bezeichnung des »Traumspiels« als realistischer Stilisiertheit und des
Romans »Am offenen Meer« als stilisierter Realistik. Mit solchen geistreichen Be-
griffsspielereien dringt man nicht bis ans Herz. Ich persönlich sehe bei Strindberg
vor allem die großen Pendelschwingungen einer ungeheuren Lebensintensität,
Schwingungen, die eben wegen ihres Ausmaßes vom Erhabenen bis ins Kindische,
von äußerster Zartheit bis zur grimmigsten Härte reichen. Ich glaube bei Strindberg
nicht an die zwei Seelen in einer Brust, sondern führe alle Gegensätze auf die un-
bändige Sucht zurück, in jeder Richtung bis ans äußerste Ende zu schreiten. Einer
solchen Auffassung scheint Marcuse nahe zu kommen, wenn er sagt: »Und auch
dann noch wäre diese Antinomie nicht zu jener katastrophalen Menschentragödie
aufgebrochen, hätte nicht diese geniale Intensität, Herbheit, Unversöhnlichkeit, diese
großartige Unbeirrtheit, welche das Leben als unbeschreiblich häßlich erkennt und
doch es für seine (ihre?) schreckliche Pflicht hält, wahr zu sein, nicht jeder der
polaren Tendenzen ihren Richtungswillen gesteift« (S. 44). Ebenso, wenn es an
einer späteren Stelle (S. 54) heißt: »daß noch eine dritte Komponente jenseits der
seelischen Disposition und der zufällig-äußerlichen, auslösenden Wirklichkeit wirk-
sam geworden ist: ein logischer Entwicklungsprozeß, der in der Richtung von
dem einen extremen Pol über einen mittleren Ausgleich zum anderen extremen
Pol zieht«.

Ein größerer Abschnitt ist dem Gottsucher Strindberg gewidmet, der mit dem
Glauben experimentiert und das Erlebnis des Bösen zu Gestalten und Mythen aus-
formt. Ein anderes Kapitel, das uns besonders angeht, beschäftigt sich mit dem
Künstler Strindberg. Er steht über dem Gottsucher, weil er aufbauend, werkschaffend
gewirkt hat, teils in realistischen Dichtungen, d. h. »bis zu den von der Wirklichkeit
vorgezeichneten Konturen«, teils in Stildramen, die »der Ausdruck der Herrschaft
der Ichgesetzlichkeit über die Dinggesetzlichkeit« sind. Zur näheren Darlegung dient
das »Traumspiel«. Seine Form darf nicht aus der Eigenart des Traums abgeleitet
werden (denn dann läge ja ein Fall von kunstwidrigem Naturalismus vor), sondern
ist aus der Zeitlosigkeit des Kunststoffes zu verstehen. Während das gewohnte
Drama eine organische Einheit bildet, die sich in einem bestimmten Rhythmus ent-

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XVII. 27
 
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