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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0424
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420 BESPRECHUNGEN.

Nun handelt es sich aber bei Hamann nicht um »unsere Zeit«, sondern um
»Gegenwart« in des Wortes verwegenster Bedeutung. Kann man eine Geschichte des
Augenblicks schreiben? Kann man das vorübereilende Heute, das morgen schon zum
Gestern geworden ist, indem es vorübereilt und sozusagen »heute noch«: aus seinem
chaotischen Fluß heraus in eine Form überführen, die der bekannten »starren« Form
der Geschichte als eine »flüssige« Form des Geschehens irgendwie entspricht?
Kann man — um das Problem aufs äußerste zuzuspitzen — die Geschichte der Se-
kunde schreiben, nicht nachdem sie vorüber ist, sondern während der Uhrzeiger rückt
und das Perpendikel seine Schwingung macht? Die »Geschichtschreibung« des heu-
tigen Tages für das Morgen nannte man früher Publizistik. Wie soll man eine »Ge-
schehensschreibung« nennen, die den Augenblick formt, ohne weitere Absichten, son-
dern lediglich um seiner selbst willen, d. h. daß er nicht ungeformt vorübergehe?

Mag sie heißen, wie sie will — eine solche Art von »Formulierung des gegen-
wärtigen geistigen Geschehens« liegt auf jeden Fall bei Hamann vor. Über die zweiund-
dreißig Seiten brauchen wir uns da nicht allzusehr zu verwundern. Bis ein dickes Buch
geschrieben ist, ist ja jene »Gegenwart«, die es eben gerade beim Schopf zu fassen
gilt, nicht mehr »gegenwärtig«! Eine Persönlichkeit, die sich selber im lebendigen
Vorwärts! unserer Zeit mit »auf dem Marsch« befindet, genügt hier dieser Zeit, in-
dem sie dieses lebendige Vorwärts! bewußt als solches »formuliert«. Sie drückt
sich aus und im Ausdruck wird ihr das Bild der »Gegenwart« »gegenwärtig«. Ich
möchte Hamanns Schrift in diesem Sinne eine expressionistische Betrach-
tung nennen. Damit ist ihre Form charakterisiert und zu jeder Art von Form, die
irgendwie »Geschichtschreibung im Großen« heißen kann oder »Geschichtschreibung
im Kleinen« vortäuscht, in Gegensatz gestellt. Sein früheres Buch »Der Impressio-
nismus in Leben und Kunst« (1907) konnte noch zur Not für eine »Geschichte der
Gegenwart« gelten, insoferne es sich hier um ein ganzes Dezennium handelte, dessen
Darstellung und »Vergegenwärtigung« versucht wurde. Die neue Schrift dagegen
formuliert den Augenblick aus dem Augenblick heraus im Augenblick. Der Impres-
sionist Hamann, der auf Grund der »Eindrücke«, die er vom Impressionismus er-
halten hatte, diesen Impressionismus darzustellen versuchte, ist offenbar Expres-
sionist geworden: er versucht Gegenwart auszudrücken.

Und dennoch — seine Arbeit bleibt eine expressionistische Betrachtung. Be-
trachtet der Expressionismus ? Nein: sowie er zur Betrachtung fortschreitet (und wenn
es die Betrachtung seiner selbst wäre!), ist es mit ihm zu Ende. Diese Empfindung
hat auch Hamann. Seine »expressionistische Betrachtung« beginnt nicht umsonst mit
dem Satze: »Der Expressionismus ist tot« — und wird ihm unter der Hand zu einer
Betrachtung über den Expressionismus.

Hamann ist in Wahrheit Impressionist geblieben und bei aller
sprunghaften Bewegtheit seiner Ausdrucksformen im Grunde noch derselbe fein-
sinnige Empfinder und (letzten Endes) sachliche Darsteller, der er von Anfang an
immer war! Noch mächtig erregt von den »Impressionen«, die ihm der Expressio-
nismus machte, erkennt er — wie heute alle Einsichtsvollen mit ihm —, daß der
absolute Expressionismus nur ein notwendiger Übergang sein konnte, daß er in dem
Augenblick sterben mußte, wo er (was gerade auch Hamann mit Hegel überall an-
strebt) »zu sich selber kam«.

Was bleibt? fragt Hamann. Und er gibt die Antwort: »Drei Ideen sind es, die
ich in der neuen Lebenshaltung, von der die Kunst auch nur ein Teil ist, wirksam
sehe: Produktivität oder das Schöpferische, Objektivität oder Sach-
lichkeit und Spiritualität oder Geistigkeit« (S. 10). — Ich stimme den hoff-
nungsgetragenen Darlegungen, in denen er diese »drei Ideen« weiter ausführt, im
 
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